Donnerstag, 4. Februar 2016

--->>> #immer #weniger #Menschen in #Deutschland #in #früher #normalen #Arbeitsverhältnissen #tätig #sind

 
555. Bremer Montagsdemo
 

von Elisabeth Graf


BA-Vorstand hetzt zu „fürsorglicher Belagerung" von Erwerbslosen

1. Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles soll Geld umgeschichtet haben. Offenbar geben die Jobcenter immer mehr Geld, das eigentlich für die Förderung und Qualifizierung von Hartz-IV-Bezieher(inne)n gedacht ist, für Verwaltung und Personal aus. Aus dem Topf für „Eingliederung in Arbeit" seien 2015 enorme 767 Millionen Euro in das Verwaltungsbudget geflossen, fünf Jahre zuvor nur 13 Millionen. Außerdem soll Andrea Nahles angeordnet haben, für die Arbeitsförderung gedachte Mittel in Höhe von 330 Millionen Euro erst nach den Haushaltsberatungen in den Etat für Verwaltungskosten bei den Jobcentern zu stecken.

Brigitte Pothmer, arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Grünen, kritisierte, dies sei nicht nur eine faktische Kürzung der Gelder für die aktive Arbeitsmarktpolitik. Nahles habe mit dieser klammheimlichen Verschiebung auch die Öf­fent­lich­keit ge­täuscht und die Haushaltshoheit des Parlaments untergraben. Schließlich hatte der Bundestag Ende November 2015 beim Haushaltsplan für 2016 beschlossen, 4,146 Milliarden Euro für die Eingliederung von Hartz-IV-Bezieher(inne)n in den Arbeitsmarkt auszugeben. Wegen des Flüchtlingszuzugs waren dies 243 Millionen Euro mehr als 2015.

Elisabeth GrafHinzu kommen 350 Millionen Euro an „Ausgaberesten" aus den Vorjahren. Auch dieses Geld sollte nach dem Willen des Parlaments für die Arbeitsförderung zur Verfügung stehen. Allerdings seien die Jobcenter schon länger in Geldnöten, weil ihr Budget für die Verwaltung seit Jahren gleichsam eingefroren sei. Aufgrund der Kostensteigerungen für Personal, Informationstechnik und Energie gäben sie jedes Jahr mehr Geld für Verwaltung aus, das eigentlich fürs Fördern von Hartz-IV-Bezieher(innen) gedacht ist.

Nun wirft Pothmer Nahles vor, dem Parlament wissentlich unrealistische Zahlen aufgetischt zu haben. Die Ministerin hätte gleich bei den Haushaltsberatungen reinen Tisch machen müssen, weil bekannt sei, dass die Jobcenter für die Verwaltung zu wenig Geld hätten. Im Arbeitsministerium wird zugegeben, dass die Jobcenter zuletzt ohnehin fast ausschließlich Mittel von der Arbeitsförderung in die Verwaltung verlagert hätten und deswegen entschieden worden sei, die Mittel aus „Ausgaberesten" bereits zu Jahresbeginn als Verwaltungskostenmittel zu verteilen. Was wird nicht alles zur Aufhübschung der Zahlen unternommen!

2. Auf den ersten Blick liest sich folgende aktuelle Formulierung des Jobcenters Essen völlig ungefährlich, beinahe geläufig: „Diese Eingliederungsvereinbarung ist gültig ab ... bis ..., längstens jedoch bis zum Ende des Leistungsanspruches. Ein Anspruch auf Leistungen aus dieser Eingliederungsvereinbarung besteht nur, sofern auch ein Zahlungsanspruch auf SGB-II-Leistungen besteht." Hoppla, hätten wir keine Quellenangabe und wüssten nicht, dass hier Menschen gefragt sind, die zwischen den Zeilen zu lesen vermögen, um perfid-verfängliche Details zu entlarven, dann wären wir nicht so misstrauisch! Nur „normalen" Leser(inne)n herkömmlicher Formulierungen stößt hier nichts auf.

Bekanntermaßen zeigt sich erst bei genauer Betrachtung aller Einzelheiten, ob eine auf den ersten Blick Erfolg versprechende Sache auch wirklich so zu bewerten ist. Was sich jedoch nur ausgefuchsten juristischen Schlaumeiern erschließt, ist das Problem, dass es sich bei Leistungsanspruch und Zahlungsanspruch im SGB II um zwei vollkommen verschiedene Sachverhalte handelt: Wenn eine 100-prozentige Sanktion ausgesprochen wurde, bestünde zwar im Grunde eigentlich noch ein Leistungsanspruch auf ALG II, uneigentlich jedoch kein Zahlungsanspruch mehr, da die Sanktion die zu zahlende Leistung ja bereits auf null reduzierte.

Paragrafenreiter könnten jetzt aufgrund der oben genannten Regelungen der Meinung sein, dass Sanktionierte zwar noch ihre Pflichten – zum Beispiel Eigenbemühungen – aus der „Eingliederungsvereinbarung" erfüllen müssen, da diese aufgrund des weiter bestehenden grundsätzlichen Leistungsanspruches weiterhin gültig sei. Sollten hingegen die für das Jobcenter in der „Eingliederungsvereinbarung" festgehaltenen Leistungspflichten – beispielsweise die Bewerbungskostenerstattung – nicht mehr bestehen, da aufgrund der Sanktion kein Zahlungsanspruch mehr auf SGB-II-Leistungen bestünde?

Verfolgt das Jobcenter Essen mit dieser subtilen Regelung etwa das Ziel, Ausgaben im Bereich der Förderung aus dem Vermittlungsbudget einzusparen? Nein, so einfach geht es wohl nicht, weil diese scheinbar oberschlaue Formulierung des Jobcenters Essen glücklicherweise noch einen Haken hat: Die dadurch eintretende Folge bewertet das Sozialrecht als „einseitige sittenwidrige Benachteiligung". Deshalb dürfte jedes Sozialgericht diese Regelung für nichtig erklären, womit auch alle Folgen dieser Regelung nichtig wären.

3. Eine Prise, gar eine erneute Fuhre Hetze gegen Erwerbslose gefällig? Detlef Scheele, neues Vorstandsmitglied der Bundesagentur für Arbeit, zeigt sich sehr freigiebig mit der Verteilung alten, übersäuerten Weins in neuen Schläuchen, indem er sich dafür ausspricht, lange Hartz IV beziehende Eltern in eine „fürsorgliche Belagerung" zu nehmen. Scheele sagte, Kinder müssten erleben, dass ihre Eltern mit oder vor ihnen aufstehen und dass es normal sei, aus dem Haus und zur Arbeit oder zur Schule zu gehen. Dafür seien „notfalls"Hausbesuche nötig, auf jeden Fall aber regelmäßige beschäftigungsfördernde Maßnahmen für diese Menschen.

Sollte Herr Scheele noch nie etwas von der Unverletzlichkeit der Wohnung als ein Grundrecht und Teil des Hausrechts gehört haben? Oder glaubt er, dass Erwerbslose dieses Grundrecht bereits durch den Verlust ihrer Arbeit verwirkt hätten? Doch scheint er die geneigte Leserschaft glauben machen zu wollen, dass Langzeiterwerbslose es vorzögen, den lieben, langen Tag faulenzend im Bett zu verbringen. Scheele unterstellt voller unbelegter Vorurteile langzeitarbeitslosen Eltern, dass sie ihren Kindern keinen regelmäßigen Alltag vorleben können, nur weil sie keine Arbeit haben. Er spricht vom „Kampf gegen die kaum mehr zurückgegangene Langzeitarbeitslosigkeit", meint aber meiner Meinung nach viel mehr den Kampf gegen Arbeitslose, wenn er davon spricht, Hausbesuche machen zu wollen, um die „Vererbung von Langzeitarbeitslosigkeit zu verhindern".

Als ob es den Erwerbslosen anzulasten sein könnte, dass immer weniger Menschen in Deutschland in früher normalen Arbeitsverhältnissen tätig sind! Ich vermute, dass sich der von mir hoch geschätzte Autor und Nobelpreisträger Heinrich Böll im Grabe herumdrehen würde, wüsste er, wie der Titel seines 1979 erschienenen Romans „Fürsorgliche Belagerung" hier für Hetze gegen Erwerbslose missbraucht wird. Bölls Erzählung spielt im „Deutschen Herbst 1977" mit den Nachwirkungen der RAF und als Mahnmal gegen Gewalt und die Schattenseiten des Kapitalismus, Sippenhaft und Resozialisierung.

 

4. Ich möchte euch einen langjährigen Erfahrungsbericht, den Kampf einer Bekannten von mir mit dem Jobcenter ans Herz legen: „Exotische Schlangen und andere Fä(e)lle vor dem Sozialgericht" von Charlotte Mourner. Ihr werdet euch darin bestimmt oft wiederfinden. Ein total spannendes Buch, das angenehm und locker geschrieben ist, leicht lesbar, aber gleichzeitig schwer zu verdauen für Menschen, die sich nicht vorstellen können, wie Hartz IV wirkt, was es den Betroffenen antut und wie es sie schädigt. Die menschenverachtenden Hartz-Gesetze polarisieren ihre Opfer in Resignierte, sich verschämt Verkriechende oder in Empörte, Wütende, die sich wehren und sich ihr Recht holen beziehungsweise was davon noch übrig ist.

Das Buch ist so geschrieben, dass es bisher Ahnungslose bestimmt zu der Aussage verleiten lässt: „Jetzt übertreibst du aber" oder: „Das hast du dir doch ausgedacht." Meiner Meinung nach können sich Nichtbetroffene kaum vorstellen, wie perfide, systematisch rechtswidrig, rechtsbeugend und das Grundgesetz brechend hier oft absichtlich und mit offenbar angeordnetem Vorsatz gegen immer größere Bevölkerungsgruppen vorgegangen wird, vermutlich um abzuschrecken, gefügig zu machen, um Arbeitnehmerrechte, ja auch Menschenrechte faktisch abzuschaffen, um die Wirtschaftsdiktatur zu unterfüttern. Die Autorin beschreibt die kleinen Schritte, die so große Wirkung haben, gegen die es sich aber auch wehren lässt! Es braucht wohl Mut, Rechtskenntnis und eine große Portion Hoffnung, um sich sein Recht zu holen.

Elisabeth Graf (parteilos, aber Partei ergreifend)




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