Freitag, 20. November 2015

Die Existenz der Tafeln selbst ist der Skandal: Menschen in diesem Land haben nicht genug um sich selbst zu versorgen, selbst wenn sie arbeiten (working poor)

Tafeln sind weder sozial noch nachhaltig

 
[via spreezeitung.de]
 
http://www.spreezeitung.de/5689/tafeln-sind-weder-sozial-noch-nachhaltig/#sthash.GIrDDcRn.dpuf

Die Tafelbewegung wurde hierzulande vor zwanzig Jahren eingeführt. Inzwischen bereichern 900 Tafeln die soziale Landschaft, doch sind sie tatsächlich sozial?

Wir haben nachgefragt.

 

Vor wenigen Tagen feierten die Tafeln in Deutschland ihr 20-jähriges Bestehen. Einst aus den Vereinigten Staaten zu uns hinübergeschwappt, versorgt diese soziale Bewegung Bedürftige mit „überschüssigen, aber qualitativ einwandfreien Lebensmitteln". Was sich anhört, wie ein funktionsfähiges Hilfe-System zur Linderung von Not und Armut lässt sich durchaus auch kritisch betrachten. Wir haben nachgefragt. Im Gespräch mit Prof. Dr. Stefan Selke, Professor für Soziologie an der Fakultät „Gesundheit, Sicherheit, Gesellschaft" der Hochschule Furtwangen University im Schwarzwald.

Herr Professor Selke, 20 Jahre „Tafelbewegung" in Deutschland – gibt es Anlass zum Feiern?

Aus meiner Sicht sicher nicht. Tafeln sind eine kurzfristige Erleichterung. Aber Tafeln sind nicht angenehm, höchstens hinnehmbar. Das dort Erhaltene wiegt oft das dort Erlebte nicht auf. Die Existenz der Tafeln selbst ist der Skandal: Menschen in diesem Land haben nicht genug, um sich selbst zu versorgen, selbst wenn sie arbeiten (working poor).

Langfristig ändern Tafeln nichts an den Ursachen von Armut mitten im Reichtum. Und damit sichern sie sich ihre eigene Existenz – dies gilt es anlässlich des ‚Jubiläums' zu überdenken. Die Tafeln trifft dafür aber keine Schuld. Sie verweisen auf das Versagen der Politik, die „Armut made in Germany" produziert und dann in ein Freiwilligensystem exportiert. 20 Jahre sind der Beweis dafür, dass man mit Schirmherrschaften für Tafeln und Freiwilligenmanagement Armut nicht sozial nachhaltig bekämpfen kann.

Werden hier zwei Problematiken zusammengeführt (Entsorgung noch brauchbarer Lebensmittel sowie die Nöte von Bürgern in prekärer Situation), in der Hoffnung, das eine Problem könne das andere aus der Welt schaffen?

Auffallend ist die Modifikation der zentralen Legitimationsfigur der Tafeln innerhalb einer großen Allianz der Lebensmittelretter. Von der frühen Figur einer sozialen Strategie (Hilfe für Wohnungslose) haben sich die Tafeln verabschiedet und setzen verstärkt auf eine ökologische Strategie, innerhalb derer sie sich als Umweltbewegung stilisieren. Problematisch ist, dass diese Legitimation auf falschen Annahmen und einer problematischen Verknüpfung von zwei nicht miteinander verbundenen Phänomenen basiert. Inzwischen konnte belegt werden, dass es durchaus keine alarmierende Lebensmittelverschwendung gibt, wie immer wieder behauptet wird. Auch lässt sich Armut nicht ursächlich durch Lebensmittelspenden abschaffen. Eine Reduzierung der Überflussmenge bei Lebensmitteln führt überhaupt nicht zu einer Senkung der Armutsquote. Die Tafelbewegung basiert also auf einer fragilen Grundannahme. Die für die Lebensmittelindustrie imagefördernde und kostensparende Entsorgung der Überschüsse durch die Tafeln löst aber weder das Überschuss- noch das Armutsproblem ursächlich.

Sie sind als Kritiker der Tafelbewegung bekannt. Worin liegt Ihrer Ansicht nach das Hauptproblem dieser Form der Hilfestellung?

Tafeln sind weder sozial noch nachhaltig, auch wenn sie mit solchen Etiketten versehen werden. Tafeln sind vielmehr Ausdruck eines schleichenden kulturellen Wandels. Sie sind ein Beispiel für sog. ‚Shifting Baselines', d.h. sich langsam verändernder Orientierungsrahmen. Sie zeigen, wie sich der kulturelle Rahmen dauernd und in derart kleinen Schritten verändert, dass dies meist unterhalb der Wahrnehmungsschwelle bleibt. Innerhalb der Tafelbewegung passen sich Werthaltungen und Standards flexibel der Praxis des eigenen (Nicht-)Handelns an. So kommt es immer wieder zu kollektiven Versäumnissen, die langfristig Folgen nach sich ziehen. Erstens ist für diese schleichenden Veränderungen die unhinterfragte Annahme von Sachzwängen verantwortlich. Diese vereiteln das Denken in Alternativen und ziehen eine Akzeptanz von Tafeln als Vereinfachungs- und Entlastungsstrategien nach sich. Zweitens werden schleichende Veränderungen durch gruppendynamische Prozesse stabilisiert.

Die eigene Wahrnehmung wird immer wieder mit ähnlich denkenden Personen abgeglichen. Es verwundert daher nicht, dass sich rund um die Tafelbewegung „Überzeugungsgemeinschaften" herausgebildet haben, die sich wechselseitig in ihren Ansichten bestätigen. Und diese Hauptansicht lautet (aus meiner Sicht): Es ist heute einfacher (und besser) öffentliche Akzeptanz für symbolische Armutslinderung zu erhalten, als Legitimation für echte (d.h. nachhaltige) Armutsbekämpfung. Oder anders: Engagementpolitik ist Engagement statt Politik.

Lassen sich weitere ggf. bedenkliche Nebeneffekte analysieren, die sich aus der Tafelbewegung ergeben?

Die Shifting Baselines, die ich gegenwärtig beobachte, beziehen sich auf viele Dimensionen: Grenzen der Erträglichkeit ändern sich (Stichwort: Pferdelasagne für Arme), Sichtweisen auf Armut ändern (… gut aufgehoben bei Tafeln), gesellschaftliches Engagement wird umgedeutet (CSR statt Steuern zahlen), politische Verantwortung ebenso (Schirmherrschaften und Kampagnen statt Programme). Diese Liste lässt sich fortsetzen…

Ist es heikel, sich kritisch zu den Tafeln zu äußern oder werden Ihre Einwände von den Akteuren und Befürwortern der Tafeln mit Bedacht wahrgenommen?

Ich erhalte Droh- und Schmähbriefe und Mails – es ist also nicht gerade angenehm, Tafeln zu kritisieren. Whistleblower versorgen mich mit Fakten über die internen Beleidigungen, die über mich kursieren. Dabei hat wohl kaum einer, der so schreibt und denkt, gelesen, was ich sage. Ein beliebtes Missverständnis ist auch, von einem 2-Minuten-Statement im Fernsehen auf den Differenzierungsgrad meiner Kritik zu schließen. Neben der ausgeprägten Intellektuellenfeindlichkeit gibt es viele „beleidigte Selbstbilder" – nicht überall, aber bei einigen Entscheidern. Umgekehrt erhalte ich immer wieder motivierende Mails und Zusprache von Armutsbetroffenen, die sich verstanden und vertreten fühlen.

Sehen sich Politiker möglicherweise durch die Tafelbewegung der Pflicht enthoben, sich um überfällige Grundsicherungsfragen jenseits der Hartz-Gesetzgebung zu bemühen?

Das ist das klassische Argument der Vertreter der Postdemokratie. Ich sehe das genauso. Im Armutsbericht von Rheinland-Pfalz wurde Hartz IV eine „staatlich verordnete Unterversorgung" genannt. Tafeln sind sehr fleißig darin, diese Versorgungslücke zu füllen. Und dabei natürlich „Druck aus dem System zu nehmen" – das sage nicht ich, das sagte selbst Sabine Werth, die Gründerin der ersten Tafel in Deutschland.

Einerseits zählt Deutschland zu den reichsten Ländern der Welt, anderseits wird zunehmende Armut immer sichtbarer. Wo liegen die politischen Defizite?

Das ist eine Frage, die weit über das Thema Tafeln hinausgeht. Zunächst verweist das auf die neue Armutsökonomie. Tafeln profitieren aufgrund ihrer sozialen Erwünschtheit und dem „gefühlten Erfolg" von steigenden Imagegewinnen, die sie innerhalb eines armutsökonomischen Marktes an Industriepartner und Sponsoren weitergeben. Sie passen zudem perfekt in die holzschnittartige Logik einer Medienlandschaft, die in personifizierbaren „Helden des Alltags" einen Gegenpol zu Krisenerscheinungen sucht und findet. Die Unternehmen sind dann die kollektiven Helden, die ihrer gesellschaftlichen Verantwortung durch Unterstützung der Tafeln gerecht werden.

Was damit verschwiegen wird ist die Tatsache, dass die Unternehmen an anderen (kostspieligen) Stellen, sich gerade vor genau dieser Verantwortung drücken. Armutsökonomie bedeutet, Armut wird eine Ware von der Dritte profitieren, die das dann als Engagement ausgeben können. Die politischen Defizite liegen dort, wo mit Selbstverständlichkeitsunterstellungen operiert wird, Tafeln einfach als Erfolg deklariert werden oder Antworten auf Anfragen an die Bundesregierung ins Leere laufen. Wir wissen nicht, was Tafeln langfristig mit Menschen machen, Tafeln sind kein Thema im Armuts- und Reichtumsbericht. Das alles sind Defizite. Aber das größte Defizit ist sicher die Problemverlagerung selbst. Statt Armut zu bekämpfen wird Armut gelindert – in einer Gesellschaft des Spektakels.

Tragen die „Hartz-IV"-Gesetzgebungen zu der bedenklichen Armutsentwicklung in Deutschland bei und falls ja, in welchem Maße?

Bedenklich ist für mich die Koppelung sozialstaatlicher Agenturen und der Freiwilligenagenturen. Konkret: Menschen, die Hartz beziehen, werden vom Jobcenter an die Tafel verwiesen. Bei Kürzungen ebenso. Das ist scheinbar so selbstverständlich – genau das ist der Skandal. Wo hören hohheitliche Verpflichtungen des Staates auf und wo beginnt freiwilliges Engagement? Eine Gesellschaft, die Engagement als Steuerungsgröße in ihre Politik einbaut, macht sich an ihren schwächsten BürgerInnen schuldig. Das ist genau der Rückfall in die Vormoderne.

Es gibt inzwischen Forderungen nach einem bedingungslosen Grundeinkommen (BGE). Sehen Sie darin eine Chance, die Armutsproblematiken in den Griff zu bekommen?

Das Thema BGE überfordert mich maßlos, das gebe ich gerne zu. Viele Konzepte, viel Unvergleichbares. Aber: Dort wo es um die Autonomie des Bürgers geht, bin ich dabei. Deswegen habe ich das „Kritische Aktionsbündnis 20 Jahre Tafeln" (http://aktionsbuendnis20.de/) gegründet. Als Mitbegründer des „Kritischen Aktionsbündnisses 20 Jahre Tafeln" trete ich ein für eine „armutsvermeidende, existenzsichernde und bedarfsgerechte Mindestsicherung". Sie soll der Garant für ein selbstbestimmtes, menschenwürdiges und beschämungsfreies Leben" sein. Das Ziel ist für mich eine politisch gewollte Verknüpfung von echten Nachhaltigkeitskriterien, den vielen inspirierenden Modellen alternativer Ökonomie und der Praxis der Tafeln. Und da gehört das BGE dazu.

Wie hoch schätzen Sie die Wahrscheinlichkeit ein, dass ein solches Grundeinkommen innerhalb eines überschaubaren Zeitraums realisiert werden kann?

Eine Frage, die jeden überfordert. Ich wäre schon froh, wenn es endlich eine politisch gewollte Beschäftigung mit den Tafeln gäbe – außerhalb der affirmativen Überzeugungszirkel. Und da sollten auch Befürworter des BGE mit am Tisch sitzen.

Das Interview führte Ursula Pidun




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