Donnerstag, 14. März 2013

Tafeln sind kein Ersatz für den Sozialstaat (gilt auch fürs SilliconeSaxony Dresden) [via scharf-links.de]

 Tafeln sind kein Ersatz für den Sozialstaat

von strassenfeger.org

[via scharf-links.de]
 



Armut bekämpfen – Wohlstand besser verteilen

Bundesverband Deutsche Tafel e.V. zieht Bilanz

Der Bundesverband Deutsche Tafel e.V. hat die Politik zu einer gerechten Sozial- und Steuer- politik aufgefordert.

Auf dem Bundestafeltreffen, das vom 21.-23. Juni in Suhl stattfand, konstatierte der Bundes- verband, dass die konjunkturellen Erfolgsmeldungen über das wahre Ausmaß der Armut in Deutschland hinwegtäuschen.

Die Zahl der hilfebedürftigen Arbeitnehmer und Rentner nehme stetig zu. Das mache sich auch bei den Tafeln bemerkbar. 1,5 Millionen Menschen nutzen derzeit die Unter- stützung der Tafeln. Seit Juni 2011 sind zwölf neue Tafeln gegründet worden, die Ge- samtzahl liegt nun bei 892 Tafeln in Deutschland. Der Anteil der Familien mit Kindern und der der Senioren unter den Tafel-Nutzern nimmt weiter zu. Darauf stellen sich die Tafeln mit Bringediensten für ältere und gehbehinderte Personen oder mit Freizeit- und Bild- ungsangeboten für Kinder ein.

strassenfeger-Chefredakteur Andreas Düllick befragte Gerd Häuser, Vorsitzender des Bundesverbandes Deutsche Tafel e.V. zur aktuellen Situation der Tafeln.

Andreas Düllick: Als „Trugbild" hat der Tafel-Bundesverband die stetigen Erfolgs- meldungen der Bundesregierung wie „Wirtschaftswachstum, niedrige Arbeits- losenzahlen und der höchste Beschäftigungsstand seit 20 Jahren" bezeichnet. Wie sieht denn die Lage in Deutschland tatsächlich aus?

Gerd Häuser: Arbeit zu haben oder lange gearbeitet zu haben, bedeutet schon lange nicht mehr, vor Armut geschützt zu sein. Es gibt Millionen Menschen, die nicht vom Aufschwung profitieren und auf staatliche Sicherungsleistungen angewiesen sind: Langzeitarbeitslose, Teilzeitkräfte, Niedriglöhner, Alleinerziehende mit ihren Kindern und Rentner. Armut ist nach wie vor eine gesellschaftliche Tatsache. Die Arbeitslosen- statistik allein sagt wenig aus.

A. D.: Das Statistische Bundesamt verweist darauf, dass rund 13 Millionen Menschen arm oder von Armut bedroht. Welche Folgen drohen uns?

G. H.: Wir machen uns große Sorgen wegen der vielen prekärer Arbeitsverhältnisse. Angesichts von Millionen Geringverdienern wird die Zahl der Altersarmen in Zukunft sicher weiter steigen. Das wird sich auch bei den Tafeln noch viel stärker bemerkbar machen.

A. D.: Viele Millionen Menschen in unserem, Land profitieren leider nicht vom immer wieder gern proapgierten wirtschaftlichen Aufschwung, sondern sind auf staatliche Sicherungsleistungen angewiesen. Hat sich Armut im reichen Deutschland seit Einführung von HartzIV weiter verfestigt?

G. H.: Den Schluss kann man ziehen. Es gelingt unserem Staat jedenfalls nicht, allen Menschen ein menschenwürdiges Auskommen zu ermöglichen. Etwa zwei Millionen Kinder sind von Armut betroffen und 400.000 Rentner beziehen Grundsicherung, weil ihre Rente nicht ausreicht. Ein Drittel der HartzIV-Bezieher sind Aufstocker - arbeiten also. Diese drei Gruppen tauchen alle nicht in der Arbeitslosenstatistik auf. Das heißt aber nicht, dass sie nicht da sind. Sie bewältigen ihren Alltag meist unter großen Mühen und müssen auf vieles verzichten, was für die Mehrheit der Bevölkerung selbstverständlich ist: Eisbecher essen im Sommer, ein Besuch im Schwimmbad mit den Kindern, ein Frisörbesuch, essen gehen mit Freunden, Urlaub usw. Das, was man im Soziologendeutsch „gesellschaftliche Teilhabe" nennt, können sie nur sehr eingeschränkt leben. Eine Demokratie lebt aber genau davon – dass Menschen mitmachen, sich einbringen, ihre Umgebung gestalten wollen und können, für andere da sein können, ihre Rechte einfordern und aktiv wahrnehmen

A. D.: Große Sorgen bereitet der hohe Anteil prekärer Arbeitsverhältnisse. Was befürchten Sie?

G. H.: Nach Angaben des für Wirtschaftsforschung (DIW) arbeiten heute zehn Millionen Arbeitnehmer in Teilzeit. Das sind bereits 26 Prozent aller Erwerbstätigen (EU-Durchschnitt: 19 Prozent). Die Mehrheit von ihnen sind Frauen. Viele von ihnen würden lieber heute als morgen Vollzeit arbeiten, denn ihre Teilzeit-Einkommen reichen oft nicht aus. Das gilt insbesondere für Alleinerziehende. Arm trotz Arbeit? Dieses Schicksal teilen Teilzeitkräfte vielfach mit Vollzeit arbeitenden Leiharbeitern und Niedriglöhnern. Über drei Millionen Beschäftigte arbeiten für einen Stundenlohn von weniger als sieben Euro. Mehr als eine Million von ihnen erreicht noch nicht einmal fünf Euro pro Stunde. Diese Arbeitnehmer sind auf Trinkgelder und aufstockendes HartzIV angewiesen, um über die Runden zu kommen. Und selbst wer ein Gehalt oberhalb der Armutsgrenze hat, rutscht nach dem Verlust des Arbeitsplatzes immer häufiger direkt in HartzIV. Und das in einem Sozialstaat!

A. D.: Warum ist die Situation so wie sie ist? Ist die Sozialpolitik in Deutschland am Ende, gibt es keine brauchbaren Lösungen?

G. H.: Die Liste der politischen Fehler und Versäumnisse der letzten Jahre ist lang.

Hier einige Beispiele: Die HartzIV-Regelsätze für Kinder werden nach wie vor nicht bedarfsbezogen berechnet, das Elterngeld für HartzIV-Empfänger wurde gestrichen, die Mittel für berufliche Eingliederungsmaßnahmen für Hartz-IV-Bezieher wurden stark gekürzt. Ein ausreichendes Angebot an Kita-Plätzen gibt es nicht. Ein kostenloses warmes Mittagessen für alle Kita- und Schulkinder? Fehlanzeige! Das Bildungs- und Teilhabepaket kommt bei etwa der Hälfte der Kinder gar nicht an. Zu bürokratisch das Antragsverfahren, zu knapp bemessen die Zuschüsse.

Wir betrachten die Sozialpolitik der letzten Jahre daher als weitgehend gescheitert. Die Politik strebt aus unserer Sicht für viele soziale Probleme noch keine grundsätzlichen Lösungen an. Eine sinnvolle Strategie zur Bekämpfung der Armut in Deutschland scheint es nicht zu geben", konstatiert Gerd Häuser. Grundsätzliche politische Veränderungen seien unumgänglich, wenn man Armut erfolgreich bekämpfen wolle.

Die Bundesregierung muss mehr tun, um allen Menschen eine wirkliche Chance auf Teilhabe am gesellschaftlichen und sozialen Leben zu eröffnen. Steuer- und Sozialpolitik bieten dazu Gestaltungsspielraum. Es wird kein Wohlhabender arm, wenn der Spitzensteuersatz erhöht oder eine Vermögenssteuer erhoben wird. Es geht keine Bank pleite, wenn eine Finanztransaktionssteuer eingeführt wird. Diese Einnahmen könnten sinnvoll verwendet werden, um den Sozialstaat und unsere Gesellschaft weiterzuentwickeln.

A. D.: Stichwort ‚Kinderarmut' – das ist doch für ein Land wie Deutschland absolut nicht hinnehmbar oder?

G. H.: Nein, Kinderarmut ist nicht hinnehmbar! Kein Kind kann etwas dafür, in welche Familie es hineingeboren wird. Wir fordern fordert, dass sich die HartzIV-Leistungen für Kinder endlich an den realen Bedürfnissen Heranwachsender und ihrer Familien orientieren. Eine Bildungspolitik vom Kindergartenalter an und kostenlose Mittagsmahlzeiten für alle Kinder in Kitas und Schulen sind das Mindeste. Wir müssen es schaffen, allen Kindern gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen – egal, wie einkommensstark oder -schwach ihre Eltern sind.

A. D.: Wie ist es derzeit um die Altersarmut bestellt?

G. H.: Im Moment gibt es mehr Kinder, die von Armut betroffen sind als Senioren – soweit bekannt. Aber das könnte sich bald ändern. Wer lange wenig verdient, der wird mit großer Wahrscheinlichkeit im Alter auf staatliche Hilfen angewiesen sein. Und da es in unsere Gesellschaft immer mehr ältere Menschen gibt, ist zu befürchten, dass immer mehr Ältere am Existenzminimum leben werden.

A. D.: Die Chancen von Alleinerziehenden am deutschen Arbeitsmarkt sind sehr schlecht. Wie muss eine wirkungsvolle Sozialpolitik darauf reagieren?

G. H.: Frauen und Zuwanderer sind es, auf die ein geburtenschwaches Land wie Deutschland auf dem Arbeitsmarkt und in der Gesellschaft dringend angewiesen ist. Damit sie arbeiten gehen und ein vernünftiges Einkommen erzielen können, brauchen wir eine flächendeckende qualifizierte Kinderbetreuung für die Kinder und Löhne, von denen die Eltern auch ihre Familien ernähren können.

A. D.: Ihr Verband fordert, einen „Beauftragten für die Bekämpfung der Armut" zu berufen? Was soll dieser beauftrage genau tun?

G. H.: Armutsbekämpfung muss insgesamt viel mehr politisches Gewicht bekommen. Ein „Beauftragter für die Bekämpfung der Armut" könnte der Bundesregierung auf die Fingers schauen, Gesetzgebungsverfahren auf Ihre Auswirkungen auf sozial benachteiligte abklopfen. Er oder sie könnte Hilfen zu ermöglichen, die den Menschen nützen und bei ihnen ankommen. Das muss jemand ressortübergreifend und unabhängig beurteilen können und zudem regelmäßig dem Deutschen Bundestag berichten.

A. D.: Sie sagen, „Tafeln sind kein Ersatz für den Sozialstaat." Warum?

G. H.: Was die Tafeln verteilen, muss eine zusätzliche Hilfe bleiben, die Menschen mit geringem Einkommen einen kleinen finanziellen Spielraum eröffnet. Tafeln können und wollen den Sozialstaat aber nicht ersetzen. Die solidarische Hilfe der Zivilgesellschaft darf von der Politik nicht zum Lückenbüßer für eine unzureichende soziale Grundsicherung gemacht werden. Der Staat ist und bleibt dafür verantwortlich, Hilfsbedürftigen ein menschenwürdiges Auskommen zu ermöglichen.

A. D.: Wie muss ein verantwortungsvollerer Umgang mit Lebensmitteln aussehen?

G. H.: Wir brauchen hier bei uns einen verantwortungsvolleren Umgang mit Lebensmitteln. Ob Hersteller, Händler oder Verbraucher – jeder muss selbstkritisch prüfen, wo er Verschwendung vermeiden kann. Viele Verbraucher missverstehen das MHD als Verfallsdatum und werfen die Lebensmittel vorschnell weg, dabei sind die Lebensmittel bei entsprechender Lagerung meist noch sehr viel länger genießbar.

Wir plädieren auch dafür Wissen über Ernährung, Ressourcenschutz und Nachhaltigkeit viel selbstverständlicher als bisher in Kitas und Schulen zu vermitteln – als eigenes Fach oder aber als übergreifendes Thema. Die Kinder müssen wissen, woher unsere Nahrungsmittel kommen und wie man sich gesund ernährt.

A. D.: Wie ist es um die nachhaltige Finanzierung der Tafeln bestellt und gibt es auch Geld vom Staat?

G. H.: Der Bundesverband und die einzelnen Tafeln finanzieren sich grundsätzlich durch Spenden. Wir bekommen keine staatlichen Gelder.

A. D.: Was wünschen Sie sich für ihre Arbeit in der nächsten Zukunft?

G. H.: Dass sie gar nicht nötig wäre!

A. D.: Was bedeutet Luxus für sie persönlich, aber auch gesellschaftlich betrachtet?

G. H.: Ich schätze gutes Essen…Und ich wünsche mir, dass niemand in unserem Land darüber nachdenken muss, ob er seine Familie satt bekommt. Ich wünsche mir, dass jeder in unserem Land gleich viel wert ist, dass Wertschätzung keine Frage des Geldbeutels ist. Vor allem aber, dass sich unser Staat den „Luxus" leistet, auf Armut zu verzichten.

www.strassenfeger.org/news/919/15/Tafeln-sind-kein-Ersatz-fuer-den-Sozialstaat-Armut-bekaempfen-Wohlstand-besser-verteilen.html

 

 


VON: STRASSENFEGER.ORG




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