Donnerstag, 17. Januar 2013

vertiefend! Geburt der Arbeitsmedizin aus dem Geist des Faschismus: Zwei Biographien über beispielhafte Lichtgestalten der BRD [via Junge Welt]

   


Volksschädling Bleiesser

Geburt der Arbeitsmedizin aus dem Geist des Faschismus:

Zwei Biographien über beispielhafte Lichtgestalten der BRD

Von Rafik Will

[via Junge Welt]

 

Schutz der Arbeiter vor Berufsschädigungen, Kampf um deren gesetzliche Anerkennung … – man sollte meinen, die Aufgaben der Arbeitsmedizin lägen auf der Hand. In der BRD verstehen sich ihre Entscheidungsträger dagegen seit jeher als Kampfpartner der Unternehmer. Das resultiert aus der Entwicklung des Fachs in den Jahren 1933 bis '45, wie Biographien zweier »Lichtgestalten« zeigen, die 2011 im VSA-Verlag erschienen sind. Die Biographin Gine Elsner war bis 2009 Direktorin des Instituts für Arbeitsmedizin in Frankfurt am Main.

Im älteren Buch aus dem Frühjahr geht es um den Gewerbehygieniker und Gerichtsmediziner Ernst Wilhelm Baader (1892–1962). Ihm zu Ehren eröffnete die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin im Jahr 2000 in den Berliner Räumen der Deutschen Gesellschaft für Arbeits- und Umweltmedizin feierlich ein »Baader-Jahr«. Schirmherr war der damalige Bürgermeister Eberhard Diepgen. 75 Jahre zuvor war im Kaiserin-Auguste-Viktoria-Krankenhaus unter Baaders Leitung eine Station für Gewerbekrankheiten eingerichtet worden. Elsner wies zu diesem Jubiläum auf Baaders Nazivergangenheit hin und wurde dafür angefeindet, auch von Kollegen.

Ihr Buch »Schattenseiten einer Arztkarriere« belegt nun, was so genau nicht bekannt werden sollte: Baader profitierte ganz entscheidend von den Nazis. Deren »Säuberung« der medizinischen Fakultät der Universität Berlin fielen 135 von 331 Hochschullehrern zum Opfer, in den Krankenhäusern der Stadtteile Moabit und Neukölln waren danach die meisten Ärztestellen nicht besetzt (56 und 67 Prozent). Auch die 20 Stadtärzte der Berliner Bezirke, denen sich die soziale Frage in den fabriknahen Arbeiterquartieren besonders dringlich stellte, waren fast ausnahmslos in KPD, SPD oder dem Verein Sozialistischer Ärzte aktiv und jüdischer Herkunft; mußten also emigrieren, wurden deportiert oder ermordet.

Der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit sollte hinter dem Konstrukt einer ethnisch und ideologisch homogenen »Volksgemeinschaft« verschwinden. Dieses Bestreben institutionalisierte sich auch in der Deutschen Arbeitsfront (DAF), dem Zwangsbündnis zwischen Arbeitern und Unternehmern (Gewerkschaften waren verboten). Der DAF waren auch die arbeitsmedizinischen Institutionen unterstellt. Arbeitsmedizin wurde Leistungsmedizin. Zur Maximierung der Produktivität führten Betriebsärzte an Arbeitsplätzen Menschenversuche durch.

Baader beantragte im Mai '33 die Mitgliedschaft in der NSDAP. Als Angehörigem des »NS-Dozentenbunds« und des »Nationalsozialistischen Ärztebunds« – zudem beratendem Internisten der HJ Berlin – stand ihm wegen des gravierenden Ärztemangels die Wahl einer hohen Stelle frei. Er entschied sich für das Städtische Krankenhaus Berlin Neukölln, wurde ärztlicher Direktor der Ersten Inneren Abteilung. Seine hiesige Station für Gewerbekrankheiten wurde im März '34 zum Universitätsinstitut; Baader selbst, seit 1930 Dozent, zum Extraordinarius. Drei von vier Fachpublikationen des Instititus kamen unter Baaders Kontrolle heraus, darunter das Periodikum Archiv für Gewerbepathologie, das 1930 von der Koryphäe Ludwig Teleky (1872–1957) mitgegründet worden war, dem Leiter der Düsseldorfer sozialhygienischen Akademie und ersten preußische Landesgewerbearzt, der 1934 als Jude und Sozialist emigrieren mußte.

Mit wissenschaftlichen Leistungen ist Baader jedenfalls nicht aufgefallen. Er übte lediglich eine Gutachtertätigkeit aus, ordnete ihm zugesandte Fälle (v.a. Bleivergiftungen) nach überlieferten Schemata den anerkannten Berufskrankheiten zu – oder auch nicht. Vehement sprach er sich gegen das »Vergabeunwesen« in der »marxistischen Ära« der Weimarer Republik aus, entlarvte »Simulanten« und angeblich mutwillig herbeigeführte Berufskrankheiten (»Bleiesser«). Die Entschädigungspraxis der Berufsgenossenschaften wurde in dieser Zeit restriktiver. 1932 bewilligten sie nach eigenen Angaben 26 Prozent der Anträge, 1934 nur noch 13 Prozent (bei 6671 bzw. 8601 Fällen). Baader half nach Kräften, »Volksschädlinge« oder »Versicherungsbetrüger« zu enttarnen. Über diese – mit dem Hippokratischen Eid unvereinbare – Tätigkeit hinaus beriet er die Wehrmacht als Gerichtsmediziner. Daß er bei standrechtlichen Urteilen Soldaten schützte, die sich selbst verletzt hatten, um wegzukommen, ist nicht anzunehmen.

Nach dem Krieg, in dem Baader auch als Soldat und Oberfeldarzt gekämpft hatte, entging er in Hamm der ortsgebundenen Entnazifizierung. Beruflich konnte er nicht mehr Fuß fassen, aber mit seinem mehrbändigen »Handbuch der gesamten Arbeitsmedizin« (1961/62) noch über den Tod hinaus Ruhm in der medizinischen Welt erlangen. Elsner beschreibt diesen Lebensweg anhand von Quellen, die sie minutiös nachweist. In Exkursen deutet sie die Bedinungen seines Aufstiegs an, Beispiel: Als Baader im Krankenhaus Neukölln eintraf, war deren Säuglingsfürsorgestelle verwaist. Der Leiter war im April 1933 erstmals in Schutzhaft genommen worden, wegen seiner Arbeit für die KPD. Georg Benjamin, Bruder von Walter Benjamin und Mann der späteren DDR-Justizministerin Hilde Benjamin, wurde 1942 im KZ Mauthausen ermordet.

Im Herbst ließ Elsner bei VSA ein Buch über den wohl einflußreichsten Arbeitsmediziners der BRD folgen. »Konstitution und Krankheit – Der Arbeitsmediziner Helmut Valentin (1919–2008) und die Erlanger Schule«. Valentin mied den Begriff Rasse und war nicht in der NSDAP, beteiligte sich in seinem Studium aber gleichwohl am »Westfeldzug«. Seine Doktorarbeit vom Januar '44 beschäftigt sich mit den Unterschieden zwischen »Ostarbeitern« und »Volksdeutschen« beim Ruhrkohleabbau. Die höhere Sterblichkeit der sowjetischen Zwangsarbeiter – v.a. ihre Anfälligkeit für Tuberkulose – erklärte er mit deren genetischer, herkunftsbedingter »Konstitution«; Unterernährung und mörderische Arbeitsbedingungen ließ Valentin außen vor.

Als die »Rassenkunde« nicht mehr Grundlage aller »Wissenschaft« war, behielt Valentin den Begriff der Konstitution bei, als persönliche, d.h. durch Veranlagung und Lebensführung bedingte Ursache von Erkrankungen. Als Experte vertrat er in der Öffentlichkeit die Interessen der Asbestindustrie. Seit1972 saß er dem »Beraterkreis der Asbestindustrie« vor, angeworben hatte ihn Eberhard von Brauchitsch. Wegen massiver Lobbyarbeit konnte der gefährliche Baustoff erst 1994 verboten werden. Valentin arbeitete auch für andere Industrien, darunter die Zigarettenmonopolisten der USA.

1970 holte die sozialliberale Koalition die Arbeitsmedizin aus ihrem Nischendasein, ließ sie für Ärzte wieder prüfungsrelevant werden, und Valentin nutzte die Gunst der Sunde. Als einziger ordentlicher Lehrstuhlinhaber (Erlangen) konnte er eine ganze Generation unterrichtender Arbeitsmediziner ausbilden (Erlanger Schule). Zehn Lehrstuhlinhaber hat er habilitiert, sechs davon haben ihre Lehrstühle bis heute, dazu kommen zwei Lehrbeauftragte in Mannheim und Freiburg.

Valentin verhinderte nicht nur die Anerkennung asbestbedingter Erkrankungen. Er führte zum Beispiel Quecksilbervergiftungen in der Chemischen Fabrik Marktredwitz (CFM) auf Alkohol- und Tablettenmißbrauch zurück, obwohl die Symptome einer Quecksilbervergiftung sogar im Handbuch des von ihm geschätzten Baader eindeutig aufgeführt sind: Tremor wegen massiver Schädigung des Zentralnervensystems etc. Dem langjährigen CFM-Betriebsratsvorsitzenden Klaus Kunz etwa sprach Valentin trotz schwerster Symptome zweimal jede Entschädigung ab. Auf dieser Linie lag auch sein Vorschlag zur Entsorgung der Quecksilberabfälle: Man solle sie einfach in freier Natur verdampfen lassen.

»Konstitution und Krankheit« enthält weniger Exkurse als Elsners Buch über Baader. Zu erwähnen wäre etwa Heiner Geißlers exemplarische Sicht auf die Arbeitsmedizin, vorgetragen im September 1986 auf einem gesundheitspolitischen Kongreß der CDU, die der Erlanger Schule seit jeher nahestand: »Mehr Bewegung, weniger Pillen«, lautete Geißlers sportsmännisches Motto zur Selbstverantwortung des Ausgebeuteten.

Die Ursprünge des falschen Selbstverständnisses der bundesdeutschen Arbeitsmedizin sind wohl nie so genau erörtert worden wie in Elsners Biographien. Wer sich hierzulande zum Mediziner ausbilden läßt, sollte an diesen Büchern nicht vorbeikommen.

Gine Elsner: Schattenseiten einer Arztkarriere – Ernst Wilhelm Baader (1892–1962). VSA Verlag, Hamburg 2011, 160 Seiten, 12,80 Euro * Konstitution und Krankheit – Der Arbeitsmediziner Helmut Valentin (1919–2008) und die Erlanger Schule, VSA-Verlag, Hamburg 2011, 158 S., 13,80 Euro


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