Freitag, 28. September 2012

So schockierend d. Vorfall auch ist, der ein Menschenleben gekostet hat, so ist er doch nicht wirklich überraschend


Gewalt im Abseitsamt

 
 
[via scharf-links.de]
 
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Kommentar aus der Perspektive einer Betroffenen

von Elisabeth Umezulike

Die Bluttat in einem Jobcenter in Neuss hat für bundesweites Entsetzen gesorgt und wirft ein Schlaglicht auf die Auswirkungen von Hartz4 auf die Betroffenen. So schockierend dieser Vorfall auch ist, der ein Menschenleben gekostet hat, so ist er doch nicht wirklich überraschend – zumindest nicht für Menschen, die selbst 'Kunden' eines Jobcenters sind oder näher mit Hartz4 Betroffenen zu tun haben (sei es als Angehörige, Freunde oder Unterstützer).

Überraschend ist vielmehr, dass es nicht weit häufiger zu Eskalationen in den Büros der Arbeitslosigkeitsverwaltungen kommt, von der Zertrümmerung von Einrichtungsgegenständen und offenen Aggressionen gegenüber Sachbearbeitern bis hin zum Amoklauf!

Damit sollen Gewaltakte gegenüber den Angestellten keineswegs gerechtfertigt werden; es geht mir vielmehr darum zu zeigen, dass die Einführung von Hartz4 ein Klima erzeugt hat, in dem Wut und Verzweiflung zwangsläufig gedeihen.

Denn in den euphemistisch so genannten 'Jobcentern' gibt es alles Mögliche andere, nur keine Jobs. Auf der Skala von sinnlosen Maßnahmen wie etwa (selbstverständlich unbezahlte) Praktika in Altenheimen (ohne freie Stelle) für gelernte Krankenschwestern (genannt 'Fördern') bis hin zu existenzbedrohenden Sanktionen (aus der Schublade 'Fordern'), werden tagtäglich verschiedene Register gezogen, um Tausende Menschen zu schikanieren und zu demütigen.

Hartz4-Betroffene stehen von Amts wegen grundsätzlich unter Missbrauchsverdacht, ihnen schlägt Skepsis und offene Verachtung entgegen, sie sind immer wieder Beleidigungen und haltlosen Vorwürfen ausgesetzt und werden durch die strukturelle Gewalt des Hartz4-Systems ihrer persönlichen Integrität und der Möglichkeiten sozialer Teilhabe beraubt.

Verstöße gegen die Grundrechte gehören zum Alltag, der Anspruch auf Menschenwürde muss am Eingang abgegeben werden. Ab da gilt nur noch die Nummer der Bedarfsgemeinschaft. Was diese Bedarfsgemeinschaft zum Leben braucht, wird von der Behörde festgelegt; ob und wie weit dies mit der Lebenswirklichkeit übereinstimmt, ist irrelevant.

Die chronische Geldnot führt dazu, dass Menschen in ihrer Entscheidungsfreiheit extrem eingeschränkt sind und sich in einem ständigen Kampf mit der Behörde um die Erfüllung grundlegender Bedürfnisse (wie etwa nach angemessenen Wohnungen) befinden. Nein, es geht nicht um Flachbildschirme und Alkohol, es geht um die Übernahme von Heizkosten, von Brillen und Nachhilfeunterricht für die Kinder. Oft genug geht es auch darum, zu Beginn eines Monats nichts mehr im Kühlschrank zu haben, weil das Geld wieder mal nicht rechtzeitig auf dem Konto war. Hungrige Kinder im reichen Deutschland – wer hätte damit vor Einführung der Agenda 2010 gerechnet?

Der Hartz4-Betroffene wird 'Kunde' genannt, aber in den Fluren des Abseitsamts (kein Verschreiber!) wird er zum unwürdigen Bittsteller erklärt, zum unnützen Esser (ganz im Sinne Münteferings), zum unmündigen Leibeigenen, der von der Gnade seines Feudalherrn abhängt.

Jeder 'Besuch' auf dem 'Jobcenter', jeder graue Briefumschlag mit dem bekannten Absender löst mindestens Unbehagen aus, bei nicht wenigen Betroffenen steigert sich dies bis zur panischen Angst und körperlichen Beschwerden. Der Verhartzte weiß nämlich nie, was ihn erwartet: welche spezielle neue Schikane man sich behördlicherseits erdacht hat, welche neue Bestimmung eingeführt wurde, welche Frist er übersehen, welche Paragraphen er nicht gekannt, welche Information er im letzten Antrag möglicherweise nicht genannt hat, warum der dringend nötige Umzug immer noch abgelehnt wird, seine Bewerbungsschreiben nicht gut genug waren... kurz, welcher Blitz aus dem sowieso ziemlich bewölktem Himmel seines Hartz4-Alltags nun wieder auf ihn niederfahren werde – sei es in Form von Anschuldigungen (dabei schreckt die Agentur übrigens nicht davor zurück auf anonyme Briefe zurück zu greifen), unerfüllbaren Forderungen oder im schlimmsten Fall Sanktionen. Dass Kürzungen eines Betrags, der ohnehin unter der Armutsgrenze liegt, schnell existenzbedrohend wirken (wie hätte man denn etwas ansparen sollen?) liegt auf der Hand. Das scheint den Erfindern und vielen ausführenden Organen dieses ausgeklügelten Disziplinierungsapparates aber ziemlich gleichgültig zu sein und so sind denn Sanktionsandrohungen ein beliebtes Mittel, um die Erwerbslosen gefügig zu machen.

Mit Hinweisen auf Paragraphen angereicherte Sanktionsandrohungen kommen übrigens in prinzipiell jedem Schreiben des 'Jobcenters' vor. Das gehört zum guten Ton bzw zur Grundausstattung der standardisierten Textbausteine und sorgt sicherlich gleich für eine optimale Vertrauensbasis zwischen Sachbearbeitern und 'Kunden', von der ja BA-Vorstand Heinrich Alt in seiner Reaktion auf die Vorfälle in Neuss schwadronierte.

Neuankömmlinge auf dem Planet Hartz4 lernen sehr schnell, dass hier die normalen Erwartungen an respektvolle Umgangsformen nicht mehr gelten und elementare Grundrechte in Frage gestellt werden. Sie erleben von da an eine Kette von Demütigungen und Frustrationen, die sich allmählich auch ins Selbstwertgefühl der Betroffenen einschleichen – und das ist Absicht.

Auch die Angestellten der Arbeitslosigkeitsagenturen sind nicht in einer beneidenswerten Lage.

Bewusst sind nämlich die Vorschriften und Erlasse der Hartz4-Spezialgesetzgebung so angelegt, dass selbst wohlmeinenden Sachbearbeiter nur wenig Ermessenspielraum bleibt und sie oft nicht im Sinne der Betroffenen entscheiden können oder sich nicht trauen, um selbst nicht Repressalien befürchten zu müssen.

Die Auswirkungen auf die Verhartzten lassen nicht lange auf sich warten: Sie beginnen an sich selbst zu zweifeln, empfinden sich als nutzlose Versager und schuld an ihrer Notlage; sie wünschen sich schließlich nichts mehr als über ein geregeltes Arbeitsverhältnis in den Schoß der Gesellschaft zurück zu kehren, und sei diese Arbeit auch weit unter ihrer Qualifikation und schlecht bezahlt. Dabei wissen sie nicht, was sie nicht wissen dürfen, dass nämlich die Arbeitslosen als industrielle Reservearmee schlichtweg Bestandteil der kapitalistischen Produktionsmaschinerie und für ihr Funktionieren unerlässlich sind. Sie sind eine leicht verfügbare Masse williger Arbeiter in konjunkturellen Stoßzeiten und zugleich dienen sie als Mahnung für alle anderen lohnabhängig Beschäftigten, insbesondere für die Prekarisierten, die Niedriglöhner, Minijobber und Leihsklaven.

Damit stellt das Hartz4-System den perfidesten Ausdruck der neoliberalen Gesinnungstäter der damaligen Rot-Grün-Regierung dar, die die Agenda 2010 auf den Weg gebracht hat und damit die Schwarzen und Gelben in puncto Sozialstaatsabbau offenbar noch übertrumpfen wollte. Es richtet sich somit an alle Lohnabhängigen, denn auch, die noch Arbeit haben, sollen das Damokles-Schwert namens Hartz4 beständig über sich schweben sehen und dazu gezwungen werden, auch schlechte Arbeitsbedingungen und miese Löhne zu akzeptieren – um bloß nicht in Hartz4 "abzurutschen". Diese Angst vor dem Sturz ins soziale Nichts hat Deutschland denn auch seit der Einführung von Hartz4 zu einem Niedriglohn'paradies' für die Unternehmer gemacht, das nun nach ganz Europa exportiert werden soll.

Für die Erwerbsarbeitenden ist es wohl eher die Vorhölle, aber diese bevorzugen sie denn immer noch gegenüber einem Leben mit Hartz4, d.h. nahezu ganz unten. Darunter gibt es nämlich nur noch die Flüchtlinge, die immer noch per Gesetz weniger als das zum Leben Nötige erhalten und fast gar keine Rechte haben und die Alkoholiker auf der Parkbank, die sich (vielleicht aus guten Gründen) der Verwertungslogik ganz verweigern und daher vom Staat auch nichts mehr zu erwarten haben.

Dabei wirkt gleichzeitig die Strategie, (Noch)Arbeitende untereinander und diese gegen Arbeitslose auszuspielen und die medial geschickt inszenierte Verunglimpfung von Hartz4-Beziehern einer Solidarisierung entgegen und verhindert die Erkenntnis, dass Lohn-Arbeitende und Arbeitslose der gleichen Klasse angehören, die prinzipiell gleichermaßen in ihrer gesellschaftlichen Teilhabe eingeschränkt und zunehmend existentiell bedroht ist.

Das führt dazu, dass die ins gesellschaftliche Abseits geschobenen Hartz4-Bezieher, die wegen ihrer ständigen Geldnot bis hin zur Überschuldung ohnehin nur rudimentäre Sozialkontakte pflegen können, in die soziale Isolation geraten. Das Elend wird individualisiert und als persönliches Versagen erlebt. Statt sich zusammen zu schließen und gemeinsam Widerstand zu leisten, vereinzeln und vereinsamen die Betroffenen, Familien und Kontakte zerbrechen, viele macht die Hoffnungslosigkeit ihrer Lage krank, sie entwickeln Depressionen und chronische Krankheiten; für manche bleibt nur noch der Suizid.

In manchen (und insgesamt weit selteneren) Fällen richten sich die angestauten Frustrationen in Form offener Aggression aber auch nach außen, wo dann allerdings nicht jene getroffen werden, die für das soziale Elend und die Stigmatisierung Erwerbsloser die Hauptverantwortlichen sind (selbstverständlich ist hier auch jeder einzelne Sachbearbeiter in seiner Eigenverantwortung gefragt!).

So war es offenbar auch im vorliegenden Fall, in dem wir daher letztlich (mindestens) 2 Opfer zu beklagen haben: die Sachbearbeiterin, die Ausführende und Entscheidungsträgerin innerhalb eines hochgradig ungerechten und bösartigen Systems war, dem sie selbst bei gutem Willen nur wenig entgegensetzen konnte und der Angreifer, wahrscheinlich ein Verzweiflungstäter, selbst.

Ja, auch der Täter (dessen Handeln damit nicht moralisch gerechtfertigt sein soll) ist ein Opfer der systemischen Unmenschlichkeit der Hartz4-Praxis und war es bereits vor seiner Tat.

Ein gnadenloses Arbeitslosen-Bestrafungssystem, das die Opfer der wirtschaftlichen Entwicklung im Spätkapitalismus zu Schuldigen erklärt, hat es letztlich selbst verursacht, wenn diese irgendwann im Kampf um einen Rest an Würde selbst zu Tätern werden.


Posted via email from Daten zum Denken, Nachdenken und Mitdenken

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