Mittwoch, 18. Juli 2012

Hartz IV u. d. Hegemonie d. Erwerbsgesellschaft (...) derzeit e. erstaunliche Akkumulation der Krisen [Blätter] lesenswert

   

Die Restauration der Arbeitsgesellschaft

Hartz IV und die Hegemonie der Erwerbsgesellschaft

von Michael Hirsch
(Blätter)
 
http://www.blaetter.de/archiv/jahrgaenge/2010/november/die-restauration-der-arbeitsgesellschaft

Die Erhöhung der Hartz-IV-Sätze um ganze fünf Euro wurde von der Regierung Merkel vor allem mit dem Lohnabstandsgebot und der Notwendigkeit begründet, den Arbeitslosen Arbeit zu vermitteln, statt ihnen Hartz IV zu zahlen. Dieser vollmundigen Ankündigung stehen jedoch unverändert strukturelle Massenarbeitslosigkeit, wachsende Armut, soziale Exklusion und gesellschaftliche Spaltung gegenüber.

Faktisch erleben wir derzeit eine erstaunliche Akkumulation der Krisen. Die diesen insgesamt zugrunde liegende Krise der Arbeitsgesellschaft als solcher muss, jedenfalls in einem demokratischen Rechts- und Sozialstaat,entweder zu einer Revision der geltenden gesellschaftlichen Basisinstitutionen führen – oder zu wachsenden sozialen Ungleichheiten.

Genau in diese zweite, fatale Richtung gehen die bisher in den westlichen Staaten gewählten politischen Krisenstrategien, auch in Deutschland. Sie führen zu systematischer Verknappung des Zugangs aller zu ausreichendem Einkommen, sinnvoller Arbeit und sozialer Anerkennung. Die Folge sind immer schärfere Kämpfe um den Zugang zu sozialen Gütern und zu Erwerbsarbeit. Der Verteilungskampf wird dabei in letzter Instanz um die soziale Existenzberechtigung der Subjekte geführt.[1] Das gegenwärtige politische Regime verunsichert, indem es das volle soziale Existenzrecht nicht mehr allen zugesteht.

All das spielt sich vor dem Hintergrund eines in die Krise geratenen Verständnisses von "Normalität" ab. Dabei handelt es sich um ein Phänomen mit zwei wesentlichen Aspekten: eine Krise der real existierenden Arbeitsgesellschaft und eine Krise der herrschenden Geschlechterordnung, oder, beide zusammengefasst, um eine Krise der androzentrischen Arbeitsgesellschaft als der vorherrschenden Lebensform westlicher Gesellschaften.

Die entsprechende soziale Grundnorm, welche heute den Hintergrund für die gesellschaftlichen Beurteilungen oder Verurteilungen der sozialen Existenz der Menschen abgibt, ist die Norm der kontinuierlichen Vollzeitbeschäftigung in Erwerbsarbeit. Alle anderen Lebensformen erscheinen demgegenüber als abweichend und defizient. Im Zuge wachsender wirtschaftlicher Rationalisierung von Arbeit fallen daher immer mehr Menschen aus der vorausgesetzten Normalität der bürgerlichen Arbeitsgesellschaft heraus: Arbeitslose, prekär Beschäftigte, Leiharbeiter, Teilzeitarbeiter usw.

Der herrschende Androzentrismus

Die bürgerliche Arbeitsgesellschaft ist darüber hinaus zutiefst androzentrisch, da sie zum einen bezahlte Erwerbsarbeit höher bewertet als unbezahlte Haus-, Erziehungs- und Betreuungsarbeit, zum anderen im Rahmen einer traditionellen Geschlechterordnung davon ausgeht, dass die weder mit Einkommen noch mit hohem sozialen Ansehen verbundenen Tätigkeiten im Wesentlichen von Frauen ausgeübt werden.

Die Basisinstitutionen der bürgerlichen Arbeitsgesellschaft liegen somit vor allem in den Normen (männlicher) bezahlter Vollzeitbeschäftigung und weiblicher Betreuungsarbeit. Es handelt sich dabei um ein Ensemble von wirtschaftlichen, politisch-rechtlichen und kulturellen Bewertungs- und Verteilungsmustern. Um ohne größere Verteilungskonflikte zu funktionieren, bedarf eine solche Ordnung stabiler wirtschaftlicher Vollbeschäftigung und einer intakten Geschlechterordnung in Form einer natürlichen Disposition der Frauen zu unbezahlter und gering geachteter Betreuungsarbeit.

Trotz der bereits seit einigen Jahrzehnten diskutierten Krise der Arbeitsgesellschaft wurde die materielle, rechtliche, politische und kulturelle Hegemonie der Erwerbsarbeitnicht wirksam in Frage gestellt. Im Gegenteil: Der überragende Stellenwert von qualifizierter und ausreichend bezahlter Erwerbsarbeit bei der Verteilung sozialer Güter und Chancen ist nicht gesunken, sondern als Folge ihrer Verknappung eher noch angestiegen.

Es kommt damit immer mehr zur Dominanz bzw. gar monopolähnlichen Stellung eines einzelnen sozialen Gutes – und damit zu einem immer gravierenderen Verteilungsproblem und einer zunehmenden "Kolonisierung" von nicht-ökonomischen sozialen Bereichen durch den Primat wirtschaftlicher Rationalität.[2]

Soziale Chancen, Einkommen, Anerkennung und sozialer Status werden fast ausschließlich über Erwerbsarbeit definiert. Damit aber verschärft sich die Ungleichverteilung im Zugang zu sozialen Gütern: Das als normal vorausgesetzte Modell sozialer Existenz lässt sich also immer weniger verallgemeinern. Es schließt mehr und mehr Menschen vom vollen Bürgerstatus aus und produziert auf systematische Weise Überflüssige.

Der meritokratische Kern im Begriff einer Arbeitsgesellschaft – die Voraussetzung, dass jeder und jede die Pflicht, aber auch die Möglichkeit zu gleicher gesellschaftlicher Teilhabe im Medium wirtschaftlicher Arbeit hat – entfällt damit. Damit wird die alle moralisch, politisch und ökonomisch erfassende Zuschreibung individueller Verantwortung (der liberalen Gerechtigkeitstheorie zufolge die notwendige Kehrseite des Rechts auf Autonomie aller als gleich geachteten Personen) fragwürdig.

Das gegenwärtige politische und gesellschaftliche Regime kann als Restauration der Arbeitsgesellschaft bezeichnet werden. Die Hegemonie der Erwerbsarbeit wird nicht revidiert, sondern vielmehr auf allen gesellschaftlichen Ebenen gefestigt. Es kommt weniger zu einer gerechteren Verteilung von Arbeit, Einkommen und Anerkennung als zu einer zunehmenden Entsolidarisierung bei steigenden Arbeitszeiten und Leistungserwartungen – und so zu einer neuen Kultur der Mehrarbeit und der permanenten Leistungssteigerung. Man könnte sagen, dass der (Verteilungs-)Konflikt selbst zum Zentrum der sozialen Ordnung wird: Der soziale Kampf avanciert zum vorherrschenden Verteilungsmodus für soziale Güter. Damit aber wird der Sozialdarwinismus zur zentralen Grundlage neoliberaler Gesellschaften.[3]

Die herrschende Doxa: Mehr Arbeit um jeden Preis

Bei der Restauration der Arbeitsgesellschaft handelt es sich um eine politische Krisenstrategie. Der Kern dieser Strategie liegt in einer staatlichen Politik der Beschäftigungsförderung und der (zumindest propagierten) Schaffung von Arbeitsplätzen um jeden Preis. Die dem zugrunde liegende Problemformel besagt, dass wir "zu wenig Arbeit" haben. Die politische Lösungsformel hingegen lautet, dass wir "mehr Beschäftigung" schaffen und jeden Broterwerb der Arbeitslosigkeit vorziehen müssen. Dabei handelt es sich in mehrfacher Hinsicht um Richtungsentscheidungen. Diese legen nicht nur fest, was im Namen der Gesellschaft getan werden soll, um ein Verteilungs- und Knappheitsproblem zu lösen, sondern auch, was gedacht und gesagt werden soll.

Entgegen der herrschenden Sichtweise auf neoliberale, deregulierte Gesellschaften ist im Kontext der Krise der Arbeitsgesellschaft nur zu offensichtlich – wie auch die aktuelle Debatte um Hartz IV zeigt –, dass die Definitionsmacht des Staates die Probleme eher vergrößert. Pierre Bourdieu spricht hier in Abwandlung von Max Webers berühmter Definition des Staates davon, dass der Staat nicht nur Inhaber des Monopols legitimer physischer Gewaltsamkeit ist, sondern auch des Monopols legitimer symbolischer Gewaltsamkeit.[4] Der Staat übt symbolische Gewalt aus, das heißt, er stützt nicht nur die herrschenden sozialen Strukturen, sondern auch die herrschende symbolische Ordnung. Dadurch wird der "Anschein der Natürlichkeit" der sozialen und mentalen Strukturen erweckt und damit die "doxische Unterwerfung" der Einzelnen unter die bestehende Ordnung gesichert.[5] Auf diese Weise werden die herrschenden Gewohnheiten und habitualisierten Lebensformen auf einer präreflexiven Ebene stabilisiert.

Wir haben angeblich "zu wenig Arbeit": Die herrschende Doxa des aktivierenden Staates hat Arbeitslosigkeit, Armut, sozialen Ausschluss und wachsende soziale Ungleichheit damit als ein Problem der Beschäftigung definiert. Die Schaffung von Arbeitsplätzen und die Sicherung von Beschäftigung ist die große legitimatorische Formel, sozusagen die große Metaerzählung gegenwärtiger Politik. Sie übernimmt als allgemeine Richtungsentscheidung die Aufgabe der Rechtfertigung aller möglichen politischen und gesellschaftlichen Einzelprogramme und ist oberste Grundnorm allen staatlichen Entscheidens.

Das politische Projekt staatlicher Beschäftigungsförderung ist der Kern des neuen Typs des aktivierenden Sozialstaats im Neoliberalismus.

Die einzelnen Elemente dieses neuen Regimes der Beschäftigungsförderung sind Lockerungen des Arbeitsrechts, als Anreize zur Schaffung von Arbeitsplätzen gedachte Steuersubventionen für Unternehmen, staatliche Lohnsubventionen für Niedriglohnarbeit und eine staatliche Minimalunterstützung (Hartz IV) bei gleichzeitigem Arbeitszwang im Kontext des neuen Sozialrechts.

Die drei wesentlichen Programmpunkte der staatlich verordneten Beschäftigungsideologie sind mehr Beschäftigung im Sinne von mehr Ermöglichung und Erzwingung von Erwerbsarbeit, eine steigende weibliche Erwerbstätigkeit sowie die Erhöhung gesellschaftlicher Bildungsqualifikationen. Sie alle verfehlen jedoch das gesellschaftliche Kernproblem – dem Verteilungskonflikt von Arbeit, Einkommen und Anerkennung – grundsätzlich, ja verschärfen es noch.

Die Hegemonie der Erwerbsarbeit und die Produktion der Überzähligen

Die als natürlich vorausgesetzte Hegemonie der Erwerbsarbeit wird mit Hilfe des aktivierenden Sozialstaats restauriert. Im Zentrum steht dabei die sukzessive Umwandlung vormals unbezahlter, freiwilliger Arbeit in bezahlte Erwerbsarbeit. Dort, wo Arbeit als Ware im ökonomischen Sinne nicht rentabel ist, also nicht zu ausreichenden Löhnen nachgefragt wird, springt der Staat mit staatlichen Zwangsmitteln und ökonomischen Anreizen ein. So entsteht ein riesiger Bereich von schlecht bezahlten und gering qualifizierten Jobs, die kaum mehr guten Gewissens als "Dienstleistungen" definiert werden können. Da im Zuge anhaltender Produktivitätsfortschritte immer mehr Arbeit eingespart wird, kann neue Arbeit nur noch im gering qualifizierten und gering entlohnten Bereich einer neuen Dienerschaft entstehen oder im öffentlichen Bereich im Rahmen eines staatlichen Arbeitsdienstes. Mittels der weiterhin intakt gehaltenen arbeitsgesellschaftlichen Basisinstitutionen findet eine systematische Produktion von Überzähligen statt – von Menschen, die keinen "Platz" in der Gesellschaft, keine soziale Existenzberechtigung haben.

Hier springt der Staat ein, indem er die illusorisch gewordenen Prämissen der Arbeitsgesellschaft festigt und die Beschäftigung von Arbeitnehmern zweiter Klasse fördert, die den qualifizierten und anerkannten Arbeitnehmern erster Klasse ihre Haus- und Betreuungsarbeit abnehmen. Die meisten der so entstehenden Tätigkeiten im haushaltsnahen Dienstleistungsbereich wurden früher auf selbstverständliche Weise unbezahlt von Frauen verrichtet. Robert Castel gibt zu, dass es hier in der Tat noch viel "unausgeschöpfte 'Quellen der Beschäftigung'" gibt. Aber er merkt mit André Gorz an, dass es sich hier um die Entstehung eines neuen Domestikentums nach dem Modell des 19. Jahrhunderts (und der heutigen "Dritten Welt") handelt, und folgert: "Wir stellen hier nicht in Abrede, dass es – wie bei den Bodenschätzen – unentdeckte 'Stellenvorkommen' gibt. Falls jedoch die gegenwärtige Krise eine Krise der Integration durch Arbeit ist, dann kann der wilde 'Abbau' dieser Vorkommen die Krise nicht lösen, er kann sie allerhöchstens noch verschlimmern."[6]

Castel geht es darum, das Prinzip staatbürgerlicher Gleichheit als Prinzip gleicher Teilhabe an ökonomischer Arbeit einzufordern. Damit richtet er sich gegen die staatliche Politik und Ideologie der Beschäftigungsförderung, die nicht nur extreme Ungleichheiten zwischen sozialen Statuspositionen favorisiert, sondern auch, bei den Überzähligen, einen "Zustand dauerhafter Wiedereingliederung" unter der Regie eines autoritären Sozialstaats befördert.[7]

Das Programm der Schaffung staatlicher Anreize und Zwänge zur Annahme von gering qualifizierter und gering entlohnter Beschäftigung ist zentral für die politischen Richtungsentscheidungen des aktivierenden Sozialstaats. An oberster Stelle steht das Ziel der Integration in den Arbeitsprozess – und zwar "auch zu niedrigeren Löhnen".[8] Darin liegt der Kern der autoritären Umdeutung des Sozialstaats.

Der Konservatismus der Basisinstitution Erwerbsarbeit ist somit nicht ein organischer, sondern ein staatlich vermittelter und erzwungener. Wesentlich sind dabei die konstitutive Rolle des Staates und die am Begriff der Arbeit vorgenommene Manipulation. Das Arbeitsbeschaffungsprogramm des aktivierenden Sozialstaats funktioniert nämlich nur, wenn der Staat Arbeit in Form eines Arbeitsdienstes erzwingt und gleichzeitig Tätigkeiten zu Erwerbsarbeit erklärt, die bisher nicht als solche galten. Damit hat die heutige Strategie der Arbeitsbeschaffung unabdingbar einen ökonomischen Imperialismus zur Folge – nämlich eine universale Ausdehnung des ökonomischen Arbeitsbegriffs auf andere gesellschaftliche Bereiche.

Alternativen: Grundeinkommen und radikale Arbeitszeitverkürzung

In einer fortschrittlichen Perspektive müsste das gesellschaftliche Verteilungsproblem dagegen so gelöst werden, dass die wirtschaftliche Arbeit möglichst weit verkürzt und auf möglichst viele Menschen (Männer wie Frauen) verteilt wird. Alle in diesem Sinne nicht-ökonomischen Formen der Arbeit sind ebenfalls allen zugänglich zu machen und allgemein als sinnvolle soziale Praxis anzuerkennen. Dies wäre ein fortschrittliches Projekt der Revision der Basisinstitutionen der Gesellschaft: eine durch allgemeine Arbeitszeitverkürzung sowie durch ein bedingungsloses Grundeinkommen ermöglichte Veränderung unserer Normalitätsvorstellungen und Anerkennungsverhältnisse.

Das Ziel dieses Modells ist die finanzielle Absicherung, zeitliche Ausdehnung und symbolische Aufwertung der Tätigkeitsformen, die unter der Hegemonie der Erwerbsarbeit nicht angemessen gewürdigt werden. Es ist also kein Programm der Arbeitsbeschaffung, sondern der fortschreitenden Überwindung der Arbeitsgesellschaft. Die theoretische wie politische Alternative lautet dabei: Eingrenzung oder Ausweitung des Arbeitsbegriffs? Das Plädoyer für eine Ausdifferenzierung des Begriffs der Arbeit ist eines für eine Eingrenzung ökonomischer Rationalität und für eine Befreiung aller anderen Formen von Arbeit. Hierbei geht es um den Sinn konkreter Lebensformen in ihrer Autonomie. Dieser beruht ganz wesentlich auf der Freiheit gegenüber externen Zwecken und Rechtfertigungen.

Diese Position aber ist nicht rein formal gerechtigkeitstheoretisch, sondern im Namen einer irgendwie gehaltvollen Vorstellung eines gelungenen Lebens zu begründen. Nur dann ist es sinnvoll, wie André Gorz alle nicht-ökonomisch definierten Formen der Arbeit als autonom im emphatischen Sinne zu verstehen.[9] Das Ziel ist eine Form der Selbstständigkeit, die geeignet wäre, die genannten Tätigkeiten dem Zugriff nicht nur der Ökonomie und ihrer Verwertungsinteressen, sondern auch dem Staat und seinen Rechtfertigungs- und Sozialisationsinteressen zu entziehen. Die neue Problemformel lautet daher: Wir haben nicht zu wenig Arbeit bzw. "Beschäftigung", sondern zu viel. Die entsprechende Lösungsformel ist daher: Wir müssen nicht mehr "Arbeit" schaffen, sondern Erwerbsarbeit, Reichtum, Fähigkeiten und Anerkennung sozial gerecht umverteilen.

Dem entsprechen die beiden derzeit wohl am stärksten diskutierten Projekte: das bedingungslose Grundeinkommen sowie die Verkürzung und Umverteilung der Arbeit. Um diese jedoch tatsächlich zu verwirklichen, bedarf es grundlegender institutioneller Reformen. Man muss die gesellschaftlichen Basisinstitutionen der Arbeitsgesellschaft revidieren. Wollen wir uns von der staatlichen Politik der Beschäftigungsförderung und ihren Prämissen lösen, müssen wir eine Politik der zunehmenden Begrenzung der Menge an wirtschaftlicher Erwerbsarbeit sowie eine Politik der fortschreitenden Erweiterung der Menge an nicht-ökonomischen Formen der Arbeit entwickeln.

Alles steht und fällt jedoch mit der klaren gesellschaftlichen Richtungsentscheidung. Im Gegensatz zu der gegenwärtig herrschenden perversen "Normalität" ist das Projekt nicht die fortschreitende Umwandlung nicht-ökonomischer in bezahlte Arbeit und nicht die Erschließung irgendwelcher "Stellenvorkommen", sondern die Erschließung von freien Potentialen und freier Zeit für nicht-ökonomische Arbeit und Fähigkeiten. Dies dient sowohl der materiell-rechtlichen Umverteilung als auch der symbolischen Umwertung.

Es geht dabei um den Kampf um eine neue Hegemonie jenseits der Hegemonie der Erwerbsarbeit. Dies impliziert ein anderes Selbstverständnis von autonomer, nicht-ökonomischer Arbeit, eine souveräne Verweigerung gegenüber dem Zwang, ökonomische oder staatliche Rechtfertigungen für die eigene Tätigkeit zu (er-)finden. Es geht darum, nicht-ökonomische Formen der Arbeit zu ihrer eigenen spezifischen Wirksamkeit und Produktivität zu befreien. Das bedeutet, dass von ökonomischen oder dem gesamtgesellschaftlichen Wohl dienenden Effekten solcher Tätigkeiten abstrahiert werden muss – zum Beispiel von der Rechtfertigung der Familie durch ihren demographischen oder sozialpolitischen Beitrag oder durch ihre Erzeugung von "Humankapital", bzw. von der Rechtfertigung von Sozial-, Bildungs- und Kulturarbeit durch ihren Beitrag zur Erzeugung von Sozial- und Humankapital. Die Beteiligten können sich diese Perspektiven nicht zu eigen machen, wenn sie nicht gerade den autonomen Sinn ihrer Tätigkeit zerstören wollen.

Die Arbeit jenseits des ökonomischen "Reichs der Notwendigkeit" ist eine souveräne schöpferische Tätigkeit im Bereich der Lebenswelt und der Zivilgesellschaft, gleichermaßen auf Abstand zu Wirtschaft und Staat, und dennoch nicht ohne durchaus produktive Nebeneffekte in Bezug auf diese.

Eine neue kulturelle Hegemonie

So ist die Frage der sozialen Gleichheit identisch mit der Frage der Gleichberechtigung der Geschlechter. Es gilt, die wichtigste Basisinstitution der bürgerlichen Arbeitsgesellschaft zu verändern: den Primat männlich kodierter Erwerbsarbeit in Vollzeitbeschäftigung.

Das gegenwärtige Programm der Beschäftigungsförderung läuft darauf hinaus, das männliche Modell allgemeiner Erwerbstätigkeit zu universalisieren und auch für die Frauen verbindlich zu machen. Die Gleichberechtigung der Geschlechter wird also als Verallgemeinerung der männlichen Lebensformen und Lebensnormen verstanden. Diese Norm wird nicht revidiert, sondern auf die ganze erwachsene Bevölkerung ausgedehnt – was natürlich vollkommen illusorisch ist und zu unlösbaren Verteilungskonflikten um den Zugang zu immer knapperen, immer härter umkämpften sozialen Gütern führt.

Eine wirkliche Gleichberechtigung der Geschlechter ist somit nur durch die Revision der androzentrischen Grundnorm der Arbeitsgesellschaft möglich. Das aber bedeutet: Nicht die Frauen müssen sich ändern, sondern die Männer. Nicht das weibliche Lebensmodell einer Verbindung von Erwerbsarbeit und (meist unbezahlter) Betreuungsarbeit ist defizient, sondern das männliche Lebensmodell der Spezialisierung auf bezahlte Erwerbsarbeit. Eine Revision der zugrunde liegenden Normalitätsvorstellungen und biographischen Normalerwartungen ist daher unabdingbar.

Wenn man eine solche scharfe Abgrenzung des Arbeitsbegriffs, eine klare Unterscheidung zwischen ökonomischer und nicht-ökonomischer Arbeit vorschlägt, dann beinhaltet die entsprechende sozialreformerische Forderung zwei Aspekte: die Verallgemeinerung des Zugangs zu bezahlter Erwerbsarbeit und zu nicht-ökonomischer Arbeit. Dies kann auf egalitäre Weise nur gelingen, wenn die grundlegenden Gewohnheiten und Lebensformen, die als normal geltenden Arbeitszeiten für die Mehrheit der Gesellschaft geändert werden – und zwar dahingehend, dass wirklich alle die Chance haben, in gleicher Weise an der Gesellschaft teilzuhaben. Anders ausgedrückt: Nur durch die tatsächliche Überwindung der sozialen Norm der ökonomischen Vollzeitbeschäftigung sind fortschrittliche, die gleiche Freiheit aller Staatsbürger fördernde Reformen der Gesellschaft möglich. Nur wenn das "weibliche" Lebensmuster der gleichzeitigen Verrichtung von Erwerbsarbeit und Betreuungsarbeit zur Norm für alle gemacht wird, ist es möglich, die prinzipielle Benachteiligung des weiblichen Geschlechts zu überwinden.

Die androzentrische Arbeitsgesellschaft kann also letztlich nur durch die Errichtung einer anderen Norm überwunden werden. Es kann sich dabei nur um die Norm eines "emphatischen Pluralismus" handeln. Ein gutes Leben wird dann nicht mehr mit einer Spezialisierung auf eine bestimmte Form der Arbeit im Rahmen einer beruflichen und erwerbszentrierten Form sozialer Anerkennung gleichgesetzt, sondern es nimmt dann die Form einer vielfältigen Existenz an: die Form vielfältiger Aktivitäten und Fähigkeiten, die im Wechsel ausgeübt und ausgebildet werden.

Eine neue "Hegemonie der Pluralität" würde den Stellenwert der Erwerbsarbeit radikal begrenzen – materiell, politisch, rechtlich, zeitlich, kulturell und symbolisch. Nur dann können die Quellen der Anerkennung wirklich ausdifferenziert werden. Der Zugang aller zu allen gesellschaftlichen Bereichen und Tätigkeiten ist ebenso die Voraussetzung wie eine materielle Grundsicherung in Form eines allgemeinen Grundeinkommens. Nur eine institutionell auf mehrfache Art und Weise gesicherte Distanz der Einzelnen zu den Zwängen der Erwerbsarbeit erlaubt ihnen eine Abgrenzung von der materiellen wie symbolischen Ordnung der Arbeitsgesellschaft. Die Idee einer neuen Hegemonie jenseits der Erwerbsarbeit zielt auf einen symbolischen Primat der unbezahlten, freiwillig verrichteten Arbeit in der Familie, im Sozialen, in der Politik und in der Kultur ab. Der Begriff der Gleichheit wie derjenige der Autonomie würde sich im gelingenden Fall von seiner primär auf wirtschaftliche Selbstständigkeit bezogenen Bedeutung lösen. Die aus Notwendigkeit verrichtete Arbeit soll immer mehr ab-, die aus Freiheit verrichtete Arbeit zunehmen: Dies ist die Vision eines sozialen Lebens jenseits der Arbeitsgesellschaft.

Radikale Reformen unserer Arbeitswelt sind damit verbunden. Nancy Fraser postuliert, dass der Schlüssel zur Verwirklichung der vollen Gleichheit der Geschlechter darin liegt, "die gegenwärtigen Lebensmuster von Frauen zum Standard und zur Norm für alle zu machen." Das kann man sich gar nicht konkret genug vorstellen: "Alle Arbeitsplätze würden für Arbeitnehmer zur Verfügung stehen, die auch Betreuungsaufgaben haben. Alle wären mit einer kürzeren Wochenarbeitszeit verbunden."[10] Damit wird deutlich, dass eine bloße materielle Grundsicherung durch ein Bürgergeld nicht für eine egalitäre Lösung gesellschaftlicher Verteilungskonflikte ausreicht. Eine wirklich fortschrittliche Strategie wird daraus erst, wenn die Vergrößerung der sozialen Sicherheit mit einer Zunahme der verfügbaren Zeit und mit der prinzipiellen Veränderung der Konventionen der Arbeitsverhältnisse verbunden wird – wenn also tatsächlich in die Arbeitszeitnormen und damit in die den Alltag strukturierenden Lebensgewohnheiten der Menschen eingegriffen wird. Dies wäre dann tatsächlich die konkrete Ausprägung der Normen von Gleichheit und Pluralität auf dem avanciertesten Niveau.

 


[1] Vgl. Pierre Bourdieu, Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft, Frankfurt a. M. 2001, S. 305 ff.

[2] Vgl. Stephan Gosepath, Gleiche Gerechtigkeit. Grundlagen eines liberalen Egalitarismus, Frankfurt a. M. 2004, S. 282 ff.

[3] Vgl. Loïc Wacquant, Bestrafen der Armen. Zur neoliberalen Regierung der sozialen Unsicherheit, Opladen und Farmington Hills 2009.

[4] Vgl. Pierre Bourdieu, Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt a. M. 1998, S. 99.

[5] Ebd., S. 99 und 118 f.

[6] Robert Castel, Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit, Konstanz 2000, S. 388 f., 390.

[7] Vgl. ebd., S. 376.

[8] Karl-Heinz Ladeur, Der Staat gegen die Gesellschaft. Zur Verteidigung der Rationalität der Privatrechtsgesellschaft, Tübingen 2006, S. 268.

[9] Vgl. André Gorz, Kritik der ökonomischen Vernunft. Sinnfragen am Ende der Arbeitsgesellschaft, Hamburg 1994.

[10] Nancy Fraser, Nach dem Familienlohn. Ein postindustrielles Gedankenexperiment, in: dies., Die halbierte Gerechtigkeit. Gender Studies, Frankfurt a. M. 2001, S. 67-103, hier S. 101.

(aus: »Blätter« 11/2010, Seite 67-74)
Themen: Arbeit, Armut und Reichtum, Frauen, Kapitalismus und Sozialpolitik



Posted via email from Dresden und Umgebung

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen