Donnerstag, 22. Dezember 2011

Anton Pam: Privilegiertes Rädchen im System? - aus dem Arbeitsalltag eines Universitätsassistenten [via Grundrisse]

(...)

Amplify’d from www.grundrisse.net


Anton
Pam:

Privilegiertes
Rädchen im System?


Persönliche Überlegungen aus dem Arbeitsalltag eines
Universitätsassistenten

Ich bin
politisch in der linken Szene aktiv und arbeite schon seit 2004 an der
Universität Wien als Universitätsassistent. Jedoch habe ich nur selten über
meinen Arbeitsalltag kritisch reflektiert oder meine Erfahrungen in die Debatte
eingebracht. Linke Kritik an der Uni jammert häufig über zu wenig Geld und Zeit
für Forschung und Lehre, ohne die Universität als System zu hinterfragen. Oft
werden Forderungen gestellt, ohne sich der eigenen privilegierten Position
bewusst zu werden. Angesicht der „Bologna-Reformen“ wird von vielen kritischen
WissenschaftlerInnen der Status Quo verteidigt. Eine Kritik sollte jedoch mit
einer Selbstreflektion anfangen.

Meine
Arbeitssituation

Mit provozierenden
Parolen wie „Zerschlagt die Universität“
[1]
kann ich wenig anfangen, da mir meine Arbeit zum großen Teil Spaß macht und ich
mich auch damit identifiziere. Die Grenzen zwischen Arbeit, Interessen and
Engagement sind fließend und oft nur schwer voneinander zu trennen. Ich habe
eine Chefin, die mir viele Freiräume lässt und wenig monotone Aufgaben
aufbürdet. In der Forschung und im Unterricht konnte ich von Anfang an
selbstständig arbeiten und mir die Themen frei aussuchen. In der Regel halte ich
mich an die vertraglich festgeschriebene Arbeitszeit. Um meine Dissertation bzw.
Habilitation fertigzustellen oder wichtige Vorträge für Konferenzen
vorzubereiten, gehe ich auch schon mal am Wochenende ein paar Stunden ins Büro.
Leider fällt mir die Abgrenzung von der Arbeit manchmal schwer. Ich kann mich
nicht daran erinnern, in den letzten Jahren meine Dienst-Emails länger als eine
Woche nicht gelesen zu haben. Die Bewerbung für eine Konferenz in den USA, auf
die ich jedes Jahr fahre, fällt immer auf den Sommer und ich bin deshalb schon
in so manchem Urlaub in ein Internet-Cafe gegangen. Zwei bis drei Mal im Jahre
fahre ich zu Konferenzen ins Ausland an Orte wie Melbourne, Hawaii oder Atlanta.
Oft verbinde ich die Konferenzteilnahme mit einem kurzen Urlaub, was zu einer
weiteren Verquickung von Arbeit und Freizeit führt. Im Gegensatz zu Deutschland
sind die Universitäten in Österreich finanziell besser ausgestattet. Eine
UniversitätsassistentIn verdient nach der Promotion über 2000 Euro netto im
Monat. Voll- und Teilfinanzierung von Auslandsreisen mehrere Male im Jahr,
längere Freistellungen vom Dienst unter Beibehaltung der Bezüge für die
Forschung, 13. und 14. Monatsgehalt, keine Mahngebühren in der Bibliothek,
während der Arbeitszeit in Bibliotheken gehen können, kostenlose
Weiterbildungen, bezahlter Lehrendenaustausch mit dem „Erasmus“-Programm, nicht
unbedeutende Gehaltszulagen bei Übernahme einer Funktion usw. sind die
Privilegien, die die „internen“ Mitarbeiter in Anspruch nehmen können. Was für
die Teilnahme an Konferenzen selbst bezahlt werden muss, kann man später durch
die Steuererklärung zurückbekommen. Externe Lehrbeauftragte sind von den meisten
dieser Privilegien ausgeschlossen.


Drei Jahre lang
übte ich als Studienprogrammleiter eine Funktion mit einigen
Entscheidungskompetenzen aus, wie z.B. die Anrechnung von Lehrveranstaltungen
von anderen Universitäten sowie Wahlfächern, die Kontrolle des Lehrbudgets,
Vorsitz bei allen Magister-Abschlussprüfungen sowie die Vergabe von
Lehraufträgen an externe Lehrbeauftragte. Debatten über die Sabotage des
Universitätsbetriebs erscheinen mir als weltfremd. „Bummelstreik“ bei der Arbeit
hätte in meinen Fall dazu geführt, dass Studierende die Familienbeihilfe nicht
rechtzeitig beantragen, Nicht-EU-Ausländer das Visum nicht verlängern oder
andere einen Job nicht antreten können, weil ein Zeugnis fehlt.


Im System drin
zu bleiben, ist keine leichte Aufgabe. Ich bin für eine halbe Stelle nach Wien
gezogen und habe zuerst eine Schwangerschaftsvertretung für ein Jahr gehabt, die
dann noch mal um ein Jahr verlängert wurde. Meine Dissertation musste ich
innerhalb von zwei Jahren fertig stellen, weil dann am Institut eine neue Stelle
frei wurde. In die Dissertation ist sicher auch viel nichtbezahlte Zeit
eingeflossen. Nach der Promotion habe ich eine ganze Stelle bekommen (AssistentInnensäule
1), die 2012 ausläuft, weil man nicht länger als sechs Jahre an einer
Universität in Österreich befristet beschäftigt sein darf
(„Kettenvertragsregelung“). Dann wird es sich entscheiden, ob ich nicht mehr
weiter beschäftigt werden kann oder eine relativ sichere und unbefristete Stelle
bekomme. Ich versuche, dieses Jahr mit meiner Habilitation fertig zu werden. Bis
vor einigen Jahren konnten Habilitierte mit einer Stelle an der Universität
einen Antrag auf Pragmatisierung (Verbeamtung) stellen, der in der Regel
genehmigt wurde. Dieses Verfahren wurde abgeschafft. Bisher ist es den
österreichischen Universitäten nicht gelungen, eine festgelegte Laufbahn, die
auf der Erfüllung von Leistungsvereinbarungen und Evaluierungen beruht, zu
etablieren. In den USA bekommen WissenschaftlerInnen auf einer  „tenure
track“-Stelle, nach der Erfüllung von Leistungsauflagen und Evaluierungen eine
unbefristete und sichere Anstellung („tenure“). Nun wurden auch an der
Universität Wien solche „Laufbahn-Stellen“ eingerichtet, allerdings sind an
meiner Fakultät in diesem Jahr bisher ganze drei (!) solche Stellen
ausgeschrieben worden. Aus Kostengründen möchte die Universität nicht, dass aus
der Erfüllung von Leistungsvereinbarungen ein Anspruch auf eine weitere
Beschäftigung entsteht. Den jungen WissenschaftlerInnen bleibt als Alternative
nur ins Ausland zu gehen oder in akademischen Projekten außerhalb der
Universität zu arbeiten. Einige meiner KollegInnen haben Stellen in den USA oder
Großbritannien bekommen.


Die Ansprüche an uns
sind hoch und relativ klar. Wer weiter kommen will, muss in anglo-amerikanischen
„Peer Review-Journals“
[2]
auf Englisch veröffentlichen und auch Monographien und Sammelbände werden
zunehmend diesem Verfahren unterzogen. Wir sollen Auslandserfahrungen sammeln
und mit Stipendien an anderen Unis forschen. Viele junge WissenschaftlerInnen
haben sicher „hochwertigere“ Publikationslisten als so manche ProfessorInnen,
die vor 10 oder 20 Jahren berufen wurden. Trotz der hohen Ansprüche sind die
weiteren Perspektiven für viele nach der Dissertation oder sogar Habilitation
unklar. Trotzdem muss gesagt werden: Während große Teile der Bevölkerung
entfremdete und oft uninteressante Lohnarbeit leisten, haben wir immer noch die
Möglichkeit während der Arbeit zu forschen, zu lesen, zu reflektieren, zu
diskutieren oder zu schreiben. Es ist ein großer Unterschied, während der
Arbeitszeit ein Buch schreiben zu können oder wie viele arbeitslose GenossInnen
in der „Freizeit“. Jede Kritik an der Universität muss die eigene privilegierte
Stellung im Vergleich zu vielen anderen Teilen der Bevölkerung berücksichtigen
und kann nicht nur auf die Verteidigung oder den Ausbau der eigenen Pfründe
zielen. Die eigene Stellung als privilegierter Kopfarbeiter muss zum
Ausgangspunkt der Überlegungen werden.

Bildung und
das System der gesellschaftlichen Arbeitsteilung

Die Universität
ist wie das Bildungswesen ein System gesellschaftlicher Arbeitsteilung. In der
Schule entscheidet es sich meistens, welche Menschen HandarbeiterInnen werden
oder in Jobs mit „niedrigen Qualifikationen“ arbeiten und welche Menschen weiter
ausgebildet werden, um später Arbeit im „Überbau“ oder in leitenden Funktionen
auszuüben. In der Form des Abschlusses wird jeder Mensch mit „sozialem Kapital“
ausgestattet, das er / sie allerdings selbst verwerten muss. Die Einen gehen
sofort auf den Arbeitsmarkt und die Anderen beschäftigen sich hauptsächlich mit
dem Studium. Deshalb nutzten viele Studierende die Universität auch, um dem
Arbeitsmarkt für einige Jahre zu entkommen. Während die Schule in erster Linie
klar definiertes Wissen vermittelt, gilt die Universität als Ort der
Wissensproduktion und kritischer Reflektion über die Gesellschaft. Die meisten
Schulen sind bisher noch fordistisch organisiert (Fächer im 45-minuten Takt nach
einem genauen Plan, ständige Überwachung durch Noten, tägliche Hausaufgaben und
Prüfungen, Beginn und Ende der Einheiten mit der Klingel). Wohnen die
SchülerInnen, wie oft im ländlichen Raum, weiter entfernt von der Schule, müssen
sie zu Zeiten wie FabrikarbeiterInnen aufstehen. Die Schule dient nicht zuletzt
der Disziplinierung der SchülerInnen. Sie lernen Pünktlichkeit, Geduld,
Zuverlässigkeit, Anerkennung von Autoritäten und Hierarchien und vor allem still
zu sitzen. Die Universität war zumindest (in Deutschland) lange weniger klar
strukturiert. Eine relativ freie Auswahl der Fächer, sogenannte „Sitzscheine“
(Kurse ohne Prüfung) und das weitgehende Fehlen einer Anwesenheitspflicht boten
Freiräume, die weder Schule noch ein „normales“ Beschäftigungsverhältnis bieten
konnten. In vielen Fächern wurden die entscheidenden Noten erst am Ende des
Studiums vergeben.


Nicht vergessen
werden sollte allerdings, dass auch die Universität eine streng hierarchische
Organisation war und ist. Die wissenschaftliche Ausbildung führt zu einer
weiteren Spezialisierung und Herausbildung der Arbeitsteilung. Neben der
horizontalen Gliederung in Fächer- und Themenschwerpunkte, gibt es noch eine
vertikale Hierarchie (Reinigungspersonal, Studierende (BA, MA), DoktorandInnen,
Verwaltungspersonal, externe MitarbeiterInnen, StudienassistentInnen,
UniversitätsassistentInnen Säule 1 und 2, außerordentliche ProfessorInnen,
ProfessorInnen, Studienprogrammleitung, DekanIn, RektorIn), die auch in der
Vergabe von Titel (BA, MA, Dr., Habilitation usw.) ausgedrückt wird. Als Doktor
und Universitätsassistent ist meine Position im vertikalen und horizontalen
Hierarchiecluster ziemlich genau definiert. Ich übe Macht aus und anerkenne
Machtstrukturen. Das fällt mir in der Regel nicht schwer, da ich eine
Professorin als Vorgesetzte habe, die mir in Lehre und Forschung große Freiräume
lässt und mich unterstützt. Es fällt auch deswegen leicht, weil ich häufig
glaube, so handeln zu müssen, damit den Studierenden eine gute Lehre und
interessantes Studium geboten wird. Vor diesem Hintergrund kommt allerdings die
kritische Reflektion über das System zu kurz und die innere Logik des Apparates
wird übernommen.


Anpassung
oder die gespaltene Persönlichkeit


Die Anpassung an
das System findet auch statt, weil zwischen dem Job und dem politischen
Engagement außerhalb der Universität nicht getrennt werden kann. Während der
Arbeit beschränke ich mich überwiegend auf die speziellen wissenschaftlichen
Themen, in die meine Persönlichkeit natürlich auch mit einfließt. Thesen, die
sich nicht im Rahmen des „Genre“ Wissenschaft belegen lassen, stelle ich nicht
auf.  Stellungnahmen zur Lage der Welt gebe ich in den Kursen mit konkreten
Themen nicht ab. Einer Studierenden, die sich auf Karl Marx bezieht, gebe ich
nur eine gute Note, wenn sie überzeugend argumentiert und sich an die Regeln den
„Genres“ hält. Dieses Verhalten ist nicht nur durch Opportunismus zu erklären,
sondern auch durch die Erfahrung, dass eine klare Vorgabe von politischen
Positionen Studierende eher einschüchtert. Was gibt es schlimmeres als Lehrende,
die nur ideologische Positionen von sich geben und von denen Studierende nichts
lernen. Schon im Studium war mir jeder konservative Professor, von dem etwas
Neues zu lernen war, lieber als sozialdemokratische Schwätzer, die mit ihrer
Parteilichkeit auch noch kokettierten. Ich habe auch als Vorsitzender von
Prüfungen miterlebt, in denen nur die richtige Ideologie abgefragt wurde nach
dem Motto „Hat sich die Lage der Frauen nach dem Eindringen der Kolonialmacht
verschlechtert?“. Das Ja reichte als richtige Antwort aus.


Die Vorstellung
von professioneller Wissenschaft kann eine Entpolitisierung fördern, die die
Spaltung der Persönlichkeit in einen Arbeits- und Freizeitmenschen erleichtert.
In Österreich werden keine Gesinnungsrituale wie ein schriftliches Bekenntnis
zur sogenannten „freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ wie in Deutschland
verlangt. In einigen deutschen Bundesländern müssen schon
HilfswissenschaftlerInnen („Hiwis“) einen Eid auf das Grundgesetz schwören. Vor
allem in den 1970er Jahre wurden Menschen aus dem Universitätsdienst entfernt,
bei denen Zweifel an der Treue zum Grundgesetz bestanden. 



Scheinökonomisierung der Wissenschaft


In den 1970er
Jahre lief fast jede linke Kritik an der Universität als Institution darauf
hinaus, den „Elfenbeinturm“ jenseits der Produktion und das „Lernen um des
Lernens Willens“ zur Ausbildung des bürgerlichen Individuums zu kritisieren. Ein
größeres Maß an Autonomie der Universitäten vom Staat war ursprünglich eine
linke Forderung, die nun unter anderen Vorzeichen umgesetzt wird. Heute wird die
stärkere Verbindung der Hochschule mit der gesellschaftlichen Praxis auch von
„neo-liberaler“ Seite gefordert. Damit ist jedoch eine stärkere Ausrichtung auf
die Bedürfnisse des Arbeitsmarkts gemeint. Das führt häufig zu einer grotesken
Scheinökonomisierung der Universität, in der verzweifelt versucht wird,
betriebswirtschaftliche Kriterien auf Geisteswissenschaft und Forschung
anzuwenden. Die Universität in ein Profitsystem zu verwandeln, ist unter den
gegenwärtigen Bedingungen in Europa nicht möglich. Zum einen fehlt im Gegensatz
zu den USA die Bereitschaft von Studierenden und Eltern für ein Studium 30.000
bis 60.000 Dollar pro Jahr zu bezahlen, noch gibt es viele Unternehmen, die
große Summen spenden, ohne einen direkten ökonomischen Nutzen zu haben. Von
daher werden Punkten und Statistiken eine Bedeutung beigemessen als handele es
sich um Geld oder Waren, als ob die Anzahl der AbsolventenInnen einer
Produktionszahl von Glühbirnen entsprechen könnte. Die Qualität von Glühbirnen
ist leicht zu überprüfen. Wie soll die Qualität des Produkts „AbsolventIn“
überprüft werden? Außerdem soll die AbsolventIn KundIn und Produkt zugleich
sein.


Nicht wenige
Diskussionen über die Frage, wie durch welches Punktesystem die Leistung einer
MitarbeiterIn oder auch durch „European Credit Points“ die StudentInnen bewertet
werden sollen, erinnern mich an das maoistische China. Soll der Bauer für das
Melken der Kuh drei oder vier Arbeitspunkte in der Volkskommune bekommen? Warum
wird das Melken der Kuh höher bewertet als das Ausmisten des Stalls? Wenn wir
für die Reparatur des Traktors fünf Arbeitspunkte vergeben, überschreiten wir
nicht das Budget unserer Volkskommune? Auch durch Planvorgaben bestimmte
statistische Werte zu erzielen, spielt eine immer größere Rolle. Lange konnte
man bei Budgetverhandlungen mit der Zahl der Studierenden argumentieren.
Plötzlich hieß es, dass nur noch die PrüfungsteilnehmerInnen und Abschlüsse
zählen. Gut ist es, wenn die Studierenden mit dem Studium schnell fertig werden,
aber nicht zu schnell. Eine Planungssicherheit gibt es nicht, weil die
Botschaften sich ständig ändern können. Selbst die „Neo-Liberalen“ könnten
fragen, lohnen sich die Kosten (Zeit und Geld) für die Evaluierungen, wenn man
den Nutzen betrachtet? Denn schon eine Bauernweisheit sagt: „Vom vielen Wiegen
wird die Sau nicht fetter“. Es werden hunderte Statistiken mit Prüfungszahlen,
Abschlüssen, Frauenanteil, StudienabbrecherInnen usw. gesammelt sowie die
wissenschaftlichen MitarbeiterInnen gezwungen, ihre Veröffentlichungen in die
RAD ("http://international.univie.ac.at/de/portal/rad/"
Research Activities Documentation)-Datenbank
einzutragen, ohne dass klar ist, nach welchen Kriterien bewertet oder bepunktet
werden soll. Bisher hat sich an der Uni Wien kein einheitliches System
durchgesetzt, den „Wert“ der Publikationen der MitarbeiterInnen in ein
statistisches System zu übersetzen. Viele Journale sind nicht in den
europäischen Ranking-Systemen enthalten und die Ranking-Systeme selbst sind
umstritten. Ein Kollegin von der Business-School Frankfurt erzählte mir, dass in
ihrem Arbeitsvertrag festlegt ist, dass sie weniger Stunden im Semester
unterrichten muss, wenn sie eine bestimmte Punktzahl nach einem Ranking von
wirtschaftswissenschaftlichen Journalen gemäß der deutschen Tageszeitung (!)
Handelsblatt
erzielt. Deshalb braucht eine WissenschaftlerIn heute eine
„Publikationsstrategie“, wonach er oder sie erst die Rankings in Erwägung zieht,
bevor ein Artikel eingereicht wird. Dadurch haben Menschen, die in Journalen mit
niedrigeren Rankings publizieren, einen „Wettbewerbsnachteil“. Für die
Lobbyarbeit um eine Verbesserung der Rankings oder die Manipulation von
Statistiken wird immer mehr Zeit aufgewendet. Eine Herausgeberin eines
britischen Journals forderte mich auf, einen Protestbrief gegen das Ranking
ihrer Publikation in Australien als Nummer Zwei statt Nummer Eins zu
unterschreiben. Ein anderes Journal bat mich, doch vier Buchbesprechungen von
ihnen in meinem Artikel zu zitieren, wahrscheinlich um ihre Zitierhäufigkeit zu
erhöhen, was ein Faktor des Rankings ist. Das Rankingsystem von Journalen
scheint vor allem in Europa ad absurdum geführt zu werden.


Das soll nicht
heißen, dass ich jede Form von Leistungskontrolle ablehne. Sicherlich ist es
unmöglich, den „Wert“ einer wissenschaftlichen Publikation statistisch zu
messen. Trotzdem sollte es Mechanismen gegen Machtmissbrauch geben. Es sollte
z.B. nicht hingenommen werden, wenn eine ProfessorIn, die aus öffentlichen
Geldern bezahlt wird, sich auf den Unterricht nicht vorbereitet oder gar der
Lehrverpflichtung nicht nachkommt, sich nicht an die Fristen für die Bewertung
von Abschlussarbeiten hält oder überhaupt keine Forschung mehr betreibt. Derzeit
sind die Leistungskriterien vor allem für MitarbeiterInnen wichtig, die keine
feste Stelle haben, und sie dienen damit mehr als Disziplinierung von oben nach
unten als einer Kontrolle der Macht. Auch die „Employability“, die
Beschäftigungsfähigkeit der  AbsolventInnen auf dem Arbeitsmarkt, kann nicht
gemessen werden. Da es bei vielen Themen und Lehrveranstaltungen keinen direkten
praktischen Nutzen für den Arbeitsmarkt geben kann, muss eben eine ausgedacht
werden. Bei der Gestaltung neuer Studienpläne weiß jeder, dass ein Studium keine
Berufsausbildung ist, trotzdem müssen ein paar Absätze in der Studienordnung
stehen über das Beschäftigungsprofil für die Studierenden und vielleicht noch
ein Gutachten der Wirtschaftskammer eingeholt werden. Vieles ist ein „so tun als
ob“, ein Spiel wie wenn eine europäische Universität nach den Kriterien
ökonomischer Verwertbarkeit geführt werden könnte. Es wird sich zeigen, wie sich
dadurch die Verhaltensweisen der Menschen verändern werden und ob ein
Punktesystem geeignet ist, die Rolle des ökonomischen Zwangs zu ersetzen oder
eine Kombination davon.



Beschleunigung des Studiums und die Ökonomisierung des Denkens


Vor allem hat
sich die Art zu Studieren in den letzten zehn Jahren verändert. Die Zeit als die
Universität als Experimentierfeld zur Selbstfindung dienen konnte, ist vorbei.
Vielen Studierenden geht es hauptsächlich darum, möglich schnell durch das
Studium zu kommen und einen lückenlosen Lebenslauf vorweisen zu können. Es gibt
keine Veranstaltung mehr ohne Prüfungen und nur noch wenige ohne
Anwesenheitspflicht. Der Stundenplan ist voll. Der Kampf um einen Platz in einem
Seminar scheint bei den „Massenstudiengängen“ Teil der Ausbildung zum
Konkurrenzverhalten zu sein. Die (Schein)-Ökonomisierung der Ausbildung hat auch
zu einer Ökonomisierung des Denkens geführt: „Was muss ich genau leisten, um
welche Note zu bekommen?“ Anstatt zu Leistung zu animieren, bewirkt das
Notensystem in der Praxis häufig das Gegenteil. Viele Studierende haben in der
Schule kritisches Denken und die Infragestellung von Autoritäten nie gelernt.
Manche sagen, sie können sich nicht selbst disziplinieren und ohne Druck von
außen arbeiten, wollen daher Noten und klare Anweisungen wie in der Schule. Ich
habe den Eindruck, dass viele Studierende mit nichts mehr verunsichert werden
können, als ihnen die Aufgabenstellung selber zu überlassen. Es ist schwierig,
die Lerngewohnheiten der Schule an der Universität zu durchbrechen. Ohne eine
Aussicht auf eine Note macht der gemeine Studierende nichts mehr. Nur was
angerechnet werden kann, macht auch einen Sinn. Wird zur Teilnahme an einem
Workshop mit internationalen ExpertInnen eingeladen, kommen gleich E-Mails mit
der Frage, für welche Lehrveranstaltung der Workshop anrechenbar sei. Eine
US-amerikanische Universität, bei der ich einmal einen Vortrag gehalten habe,
teilt an die Studierenden ein Heft aus und sie bekommen für die Teilnahme an
einer Abendveranstaltung einen Stempel. Gibt es kein größeres Eingeständnis des
Scheiterns, Studierende zu motivieren, als eine „Stechuhr“ einzuführen? Die
Überlegungen, welcher Job durch das Studium zu bekommen ist, sind wichtiger denn
je. Einige setzen sich selbst so unter Druck, dass sie nicht mehr ein Jahr im
Ausland studieren wollen, sondern nur noch einige Monate, um keine Zeit zu
verlieren. Im Gegensatz zum alten Diplomstudiengang mit offenem Ende, wo es
manchmal keine klare Studienordnung gab, helfen nun „Student Point“ und andere
Serviceeinrichtungen, möglichst schnell das System zu verstehen und kein
„Orientierungssemester“ zu verplempern.


Engagement und
Reflektion wird auch für Studierende immer schwieriger, die wie viele
MitarbeiterInnen in einem Laufrad stecken und einen fast unüberschaubaren Berg
von Deadlines abarbeiten müssen. Wie in vielen Branchen der Wirtschaft wird
ergebnisorientierte Arbeit eingeführt, bei der es nicht mehr darum geht, eine
bestimmte Zeit im Büro zu sitzen, sondern zu einem festgelegten Termin das
„Produkt“ abzuliefern. Das bringt zum einen die Freiheit gleitender
Arbeitszeiten. Zum Anderen kann es temporär zu extremen Arbeitsbelastungen
führen, die auch die „Freizeit“ einnehmen. Die „Deadline“ wird wichtiger als der
Dienstplan. Teile des Unterrichts bestehen darin, die Studierenden darauf zu
trimmen, Deadlines einzuhalten. Früher hatte man an der Uni Wien drei Semester
Zeit eine Hausarbeit abzugeben, heute sind es maximal die Semesterferien plus
einen Monat (Ende der Nachfrist der Anmeldung zum nächsten Semester). Bisher
konnten weder Lehrenden noch Studierenden der recht flexible Umgang mit
Deadlines ausgetrieben werden. Besonders geeignet zum Trainieren des richtigen
„Zeitmanagements“ ist E-Learning, da die Plattform so eingestellt werden kann,
dass Hausaufgaben nur bis zu einem bestimmten Tag vom System angenommen werden.
Statt langen Hausarbeiten in den Ferien kann  auch mit kleineren Deadlines
innerhalb des Semesters gearbeitet werden. Mittlerweile können die Lehrenden
sogar sehen, ob und zu welcher Uhrzeit ein im System angemeldeter Studierender
ein Dokument geöffnet hat. Nach meinen Eindruck haben viele Studierende diese
zusätzliche Kontrollfunktion von E-Learning erkannt und melden sich nicht gerne
für Kurse an, die innerhalb des Semesters den meisten Arbeitsaufwand verlangen.
Sie wollen zwar, dass der Lehrende alle seine Materialien online stellt, aber
das eigene Referat oder andere Beiträge sollen lieber nicht für jede
KursteilnehmerIn sichtbar sein. Auch die Versuche, die Teilnahmevorsetzungen für
Kurse durch ein Online-System streng durchzusetzen, funktionieren nur bedingt.
Der Computer soll selbst erkennen, wenn die Vorsetzungen nicht erfüllt werden,
und die Studierende gar nicht erst zulassen. Obwohl das System jedes Semester
verbessert wird, gelingt es Studierenden immer wieder, „Schlupflöcher“ zu finden
und sich z.B. über andere Studienkennzahlen trotzdem für den Kurs anzumelden.
Die Lehrenden verwenden viel Zeit damit, mit den Studierenden über Ausnahmen zu
diskutieren oder das Einhalten der Regeln zu überwachen. Es ist fraglich, ob die
„Computerisierung“ der Kontrolle wirklich zu weniger Arbeit führt.


Die Noten und
Ich


Verwunderlich
ist allerdings auch, dass bisher niemand das österreichische
„Einheitsnotensystem“ in Frage stellt (nur glatte Noten von 1 bis 5), das eine
genauere Differenzierung nicht möglich macht und daher im Widerspruch zur
„neo-liberalen“ Leistungsideologie steht. In Deutschland gibt es hingegen die
Komma-Noten. Die „Kosten“ für die Abschaffung der „Sitzscheine“ durch Benotung
in allen Lehrveranstaltungen darf nicht unterschätzt werden. ProfessorInnen, die
zwei Vorlesungen halten, müssen ca. 400 Klausuren korrigieren (lassen), anstatt
forschen zu können. Damit sie das überhaupt noch bewältigen können, führen
manche Multiple Choice-Tests ein. Das hat wiederum zur Folge, dass die
Studierenden Dinge für die Prüfung auswendig lernen und dann wieder vergessen.
Gerade in Bezug auf Evaluierungen von MitarbeiterInnen und Noten in Vorlesungen
ist es verführerisch „neo-liberal“ mit den zu hohen Kosten zu argumentieren.
Eine Kritik am Noten-System zu entwickeln, ist allerdings schwieriger. Auch ich
gebe jedes Semester viele Noten. Zum einen ist mir klar, dass Noten nicht
unbedingt die Leistung steigern, sondern genutzt werden können, um mit dem
möglichst geringsten Aufwand durch das Studium zu kommen. Außerdem wird als
Lehrender eine Vorselektion für den Arbeitsmarkt ausgeübt. Noten sind nicht
gerecht, da jeder Lehrende seine eigenen Maßstäbe hat. Gerade Vergleichbarkeit
ist nicht gegeben. Natürlich spielt auch der persönliche Eindruck eine Rolle.
Einer Studierenden, die für gut gehalten wird, wird schneller eine gute Note
gegeben als jemandem, der/die in die schlechte „Schublade“ eingeteilt wurde.
Trotzdem widerspricht die Vergabe von Einheitsnoten von eins bis zwei meinem
Gerechtigkeitsinn. Warum soll eine StudentIn, der/die sich Mühe gegeben und gute
Ideen hat, die gleiche Note bekommen, wie jemand, der / die von Wikipedia
abgeschrieben hat? Ist es sinnvoll, Studierende, die vom wissenschaftlichen
Arbeiten keinen blassen Schimmer haben, immer durchkommen zu lassen, damit sie
dann bei der Abschlussarbeit scheitern? Definitionskriterien für „Leistung“ und
„Qualität“ müssen immer kritisch hinterfragt werden, trotzdem würde ich diesen
Begriff nicht grundsätzlich ablehnen. Die LeserIn einer Abschlussarbeit erkennt
doch, ob sie von der VerfasserIn gut durchdacht und fundiert recherchiert wurde
oder nicht. Der Widerspruch ist klar und dennoch schwierig lösbar: Die eigenen
Ansprüche an Kreativität und Qualität unterstützen die gesellschaftliche
Funktion der Selektion für den Arbeitsmarkt, die ich eigentlich nicht ausüben
möchte. Oft sind gerade junge Lehrende strenger, weil sie, wenn sie etwas
machen, es besser machen wollen als der alte Professor, der vielleicht denkt:
„Wem schadt’s denn? Mir is eh alles wurscht.“


Beim Schreiben
dieses Textes ist mir meine Stellung als Lehrender gegen die Studierenden
deutlich geworden. Gerade für engagierte Lehrende kann es frustrierend sein,
wenn viele Studierende kein besonderes Interesse an ihrem selbstgewählten
Studium haben. Es ist immer noch möglich, kritisches Denken und analytischen
Fähigkeiten an der Universität zu lernen, wenn es wirklich gewollt wird. Die
Teilung zwischen Lehrenden und Studierenden ist im Moment schwer in Frage zu
stellen, weil ein großer Teil der KursteilnehmerInnen kaum Vorkenntnisse hat,
nicht aus eigenem Interesse liest oder sich gar eine eigene Meinung bildet. Als
Vorsitzender in Magister-Abschlussprüfung habe ich auch gemerkt, wie schnell man
sich an neue Rollen gewöhnt. An der anderen Seite des Tisches wird auch in
anderen Kategorien gedacht. Es ist nicht verwunderlich, dass sich viele
ProfessorInnen nach 20 Jahren Lehre kaum noch in die Rolle des nervösen
Studierenden hineinversetzen können, für den es um viel geht. Ohne die
Studierenden mit einzubeziehen, ist eine kritische Reflektion des Systems und
der eigenen Rolle nicht möglich.


Keine
politische Opposition im „Ständestaat“


Gegenwärtig gibt
es an der Universität keine interventionsfähige Opposition, der ich mich
anschließen wollte. Auf der einen Seite steht das Rektorat, das die
„neo-liberalen“ Reformen beschleunigt und auf der anderen Seite eine „unheilige
Allianz“ von Kräften, die aus unterschiedlichen Gründen den Status Quo
verteidigen wollen. Bei den unzähligen Sitzungen auf den verschiedenen Ebenen,
an denen ich teilgenommen habe, wurde nie auch nur eine Frage politisch
diskutiert. Durch die ständigen Änderungen der Studienpläne und Institutionen
wird der Apparat der MitarbeiterInnen auf Trab gehalten. Man lernt schnell die
Schlagwörter selbst zu benutzen, um seine eigene Forschung absichern zu können.
Die Umsetzung der Pläne und Verordnungen gilt als Preis für selbstbestimmtes
Forschen. Die Agenda ist so eingerichtet, dass jeder Versuch die Fragen von der
Ökonomisierung der Bildung oder auch der Verschulung der Universität politisch
zu diskutieren, erst gar nicht zu Stande kommt. So ist es nicht verwunderlich,
dass der Anstoß zur Kritik von außen durch die Studierenden-Proteste 2009 kommen
musste. Leider ist von diesem Druck nun nichts mehr zu spüren. Auch die meisten
(heimlichen) Kritiker der „neo-liberalen“ Reformen argumentieren wieder
„juristisch“ oder weisen auf Widersprüche in Verordnungen hin. Wie auch der
Betriebsrat, so ist auch die ÖH (Österreichische Hochschülerinnenschaft) fest in
der Hand von quasi Parteiorganisationen, was Engagement nicht unbedingt
attraktiver macht. Mit der Gewerkschaft bin ich noch nie in Berührung gekommen.
Es scheint keinerlei Bestrebungen zu geben, neue Mitglieder zu gewinnen. Die
Arbeiterkammer zieht mir jeden Monat 0,5 Prozent von meinem Bruttolohn ab, ohne
sich mir jemals in einem Brief vorgestellt haben. Die Sitzungen der nach
„Ständen“ getrennten vier Kurien (ProfessorInnen, Mittelbau, allgemeines
Personal und Studierende) sind in der Regel so langweilig, dass besonders
jüngere KollegInnen sich kaum engagieren. Oft geht es in Kuriensitzungen nur
darum, zu erraten, was der Rektor will oder wann er wem welche Zusagen gemacht
hat. Zwischen denjenigen, die dank der alten Gesetzbebung quasi verbeamtet sind,
und den Jüngeren, die unter Existenzdruck arbeiten müssen, scheinen Welten zu
liegen. Die „externen“ MitarbeiterInnen, die jedes Semester hoffen müssen, einen
neuen Vertrag zu bekommen, sind aus den Kommunikationsstrukturen weitgehend
ausgeschlossen. Die Trennlinien verlaufen hier nicht nur zwischen Alt und Jung.
Auch Habilitierten ohne feste Stelle wird eine prekäre Beschäftigung angeboten,
wenn sie Masterarbeiten mit einem Werksvertrag betreuen sollen. Konflikte
entbrennen häufig auch nicht entlang des ständestaatlichen Konstrukts, sondern
zwischen Abteilungen und Instituten. Die Einteilung in vier Kurien erscheint mir
künstlich und hat mit dem Arbeitsalltag wenig zu tun. Die Auflösung der Kurien
und ihre Ersetzung durch ein einheitliches „Faculty-Modell“ könnte ein Schritt
in die richtige Richtung sei, allerdings wird das Interesse an den
„Selbstverwaltungsgremien“ nicht steigen, wenn sie keine wirklichen
Entscheidungskompetenzen haben. Besonders fraglich finde ich die Versuche, eine
Scheindemokratie zu etablieren, wo die Mitbestimmung abgeschafft wurde. Viele
Gremien wie Institutsversammlungen, Studienkonferenzen oder
Curricular-Arbeitsgruppen, die nur beratende Funktion haben, stimmen trotzdem
noch ab. Es kann zwar nicht mitentschieden werden, aber in
Curricular-Arbeitsgruppen soll die Verantwortung für neue Studiengänge
übernommen werden. Statt die Infragestellung der herkömmlichen Strukturen von
„neo-liberaler“ Seite als Chance zu begreifen und selber Kritik zu entwickeln,
wird von vielen nur versucht, das Alte unter neuem Namen weiter zu betreiben.


Alles Elite?


Seit einigen
Jahren wird von „neo-liberaler“ und konservativer Seite versucht, den Begriff
„Elite“ positiv zu besetzen, die Einrichtung von Elite-Universitäten wird
gefordert. Problematisch ist auch die inflationäre Verwendung des
Eliten-Begriffs von links. Gibt es Zugangsbeschränkungen (wie in fast allen
Ländern der Welt), wird gleich von der Einführung eines „Elite-Studienganges“
gesprochen und so getan, als ob es ein Menschenrecht sei, dass jeder in Wien
Publizistik studieren darf. Was ist eigentlich eine Elite-Universität? Nur ein
paar Zahlen: 2008 hatte  die Harvard-Universität  mit 3,46 Milliarden US-Dollar
ein ähnliches Budget wie das österreichische Ministerium für Wissenschaft und
Forschung für alle Universitäten und weitere Ausgaben. Insgesamt besaß Harvard
2008 ein Vermögen von 36,8 Milliarden US-Dollar. Die Universität Wien hat 6,7
Millionen Bücher, Harvard aber 16,2 Millionen. Bisher ist es eine Illusion, in
Kontinentaleuropa eine Eliteuniversität zu schaffen, die mit den
US-amerikanischen vergleichbar wäre. Zum einem ist der finanzelle Aufwand sehr
hoch und politisch bisher nicht durchzusetzen, die Ressourcen derart ungleich zu
verteilen wie in den USA. Durch die deutsche „Exzellenzinitiative“, in der die
gewinnenden Unis und Projekte einige Millionen Euro pro Jahr mehr kommen, werden
die Unterschiede zwischen den Universitäten vergrößert, von der Finanzkraft der
amerikanischen Top-Universitäten werden auch die Gewinnerinnen trotzdem weit
entfernt sein. Oft wird der Eindruck erweckt, dass es früher ohne
Studiengebühren und bei einer Tabuisierung des Elitenbegriffs keine soziale
Selektion gegeben hätte. Wie ist es zu dann zu erklären, dass auch bei einem
kostenlosen Studium ohne Zulassungsbeschränkungen der Anteil der
ArbeiterInnenkinder trotzdem abgenommen hat? Ist es nicht positiv, dass endlich
wieder offen über Eliten gesprochen wird, anstatt so zu tun, als würden
Klassenherkunft und sozialer Habitus keine Rolle mehr spielen? Was war
verlogener als die sozialdemokratische Gleichheitsideologie der 1970er Jahre,
nach der scheinbar alles für alle offen war? Im alten Magisterstudiengang
brachen in Deutschland über die Hälfte der Studierenden das Studium ab und
bekamen nie einen Abschluss. Der BA wird daher nicht ganz zu Unrecht als
„Abschluss für Studienabbrecher“ bezeichnet.


Es gilt auch die
Erfahrung in den „real-sozialistischen“ Ländern miteinzubeziehen Als Ex-Leninist
habe ich mit dem Elitebegriff weniger Probleme als viele SozialdemokratInnen.
Die Idee einer revolutionären Avantgarde war immer schon elitär. Nicht jede
sollte in die „Kader-Partei“ aufgenommen werden. Das Universitätssystem in der
Sowjetunion, der DDR oder China beruhte in einen viel größeren Maß auf dem
Ranking der Hochschulen und der Auslese der Studierenden als in Westdeutschland
oder Österreich. Zumindest zeitweise wurden dadurch Studierende aus
„bildungsfernen Schichten“ besonders gefördert. In China weiß heute jedes
Schulkind, welche Universitäten als die besten des Landes gelten. Es wird immer
Menschen geben, die engagierter und aktiver sind als andere, die größere Risiken
eingehen, intelligenter sind, mehr lesen oder besser erklären können. Daraus
sollte natürlich kein Herrschaftsanspruch abgeleitet werden und die Frage
gestellt werden, woher diese Unterschiede rühren. Damit hängt natürlich auch die
Frage von „sozialem Kapital“ und Habitus zusammen. Im Moment wird leider der
akademische (und bildungsbürgerliche) Habitus kaum in Frage gestellt. In der
gegenwärtigen Debatte muss vor allem die Entpolitisierung des Elitenbegriffs
hinterfragt werden. Viele Fragen sind heute offen: Soll in einer
nachkapitalistischen Gesellschaft jeder Zugang zu allem gewährt werden, ohne
Einbeziehung von Fähigkeiten sowie der gesellschaftlichen Bedürfnisse und
Notwendigkeiten?


Die
Notwendigkeit eines Netzwerkes


Je detaillierter
ich über meinen Arbeitsalltag schreibe, um so mehr verstricke ich mich in der
Logik des Hochschulsystems. Eine grundsätzliche Kritik an der Universität kann
nur im Kontext der Kritik der bürgerlichen Gesellschaft entwickelt werden. Es
scheint paradox zu sein: In dem Moment, wo Selbstdisziplinierung und
Selbstausbeutung die Fremddisziplinierung durch Stechuhr und Fließband in der
Ökonomie ersetzen, wird die Universität immer mehr verschult. Alles soll durch
die Lehrenden benotet und überwacht werden. Im Gegensatz dazu sollen sich die
späteren ArbeitsnehmerInnen ihr eigenes Panoptikum bauen. Nicht alles, was die
RektorInnen für „Employability“ halten, muss auch von den KapitalistInnen so
bewertet werden. Oft wird in linker Kritik das ideologische Geschwätz von der
Universität als Wirtschaftsunternehmen mit der Realität eins zu eins gesetzt.
Der Zusammenhang zwischen Universität und Arbeitsmarkt muss genauer
herausgearbeitet werden. Welche Funktionen haben Universitäten in der heutigen
kapitalistischen Gesellschaft? Was sind die gesellschaftlichen Gründe für die
Reformen der Hochschulen? Inwiefern handelt es sich um objektive Notwendigkeiten
und was ist Ideologie, bzw. wie werden Notwendigkeiten konstruiert? Warum werden
für Arbeiten, für die vor 20 Jahren keine Matura gebraucht wurde, heute
Universitätsabschlüsse verlangt? Auf die (Schein)-Ökonomisierung der
Wissenschaft kann nur mit einer Politisierung der Debatte geantwortet werden.
Allerdings macht es im Moment wenig Sinn, diese Debatten in den bestehenden
Gremien anzustoßen. Wir brauchen Orte der theoretischen Reflektion, die jenseits
des Alltagsgeschäftes liegen und nicht an institutionelle Grenzen gebunden sind.
Zunächst könnten wir ein Netzwerk der kritischen Wissenschaft aufbauen - ein
anderes Forum, in dem ProfessorInnen, AssistentInnen, MitarbeiterInnen und
Studierende sich austauschen können. Vor und nach den Studierendenprotesten von
2009 hat es mehrere Organisationsversuche gegeben. Sie sind entweder nach
einiger Zeit eingeschlafen oder es blieben nur noch ein dutzend Leute übrig. Zum
einen ist es in Zeiten der Prekarisierung schwierig, noch weitere zusätzliche
und vor allem regelmäßige Termine wahrzunehmen. Außerdem gibt es auch
unterschiedliche Herangehensweisen. Soll sich die Kritik in erster Linie gegen
die „Bologna-Reformen“ richten, die „alte“ Universität wieder herbeigewünscht
oder eine grundsätzliche Kritik an den Hochschulen als Institutionen entwickelt
werden? Auch die persönlichen Erfahrungen sind kein einfacher Ansatzpunkt, weil
die Arbeitsbedingungen unter den verschiedenen ProfessorInnen stark variieren. 
Da für viele das Verbleiben an der Universität in Zukunft unklar ist, denken
sich manche, warum sie überhaupt Uni-Politik machen sollen. Sicherlich gibt es
an der Uni noch einige Leute links von der Sozialdemokratie, die sich noch gar
nicht kennen und Lust haben, gemeinsam Kritik an der Universität als System zu
entwickeln. Mich interessieren in diesem Zusammenhang vor allem vier Punkte:


1. Entwicklung
einer fundierten politischen und theoretischen Kritik an der Universität als
System innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft. Dabei wäre es sinnvoll,
Texte aus der Vergangenheit und Gegenwart zu sammeln, die sich diese Aufgabe
gestellt haben (z.B. Gramsci, Adorno, Althusser, Derrida, Gorz, Edufactory,
Uninomade usw.).


2. Beschäftigung
mit alternativen und radikalen Bildungsreformen in der Vergangenheit. Die
vielseitigen Erfahrungen in der jungen Sowjetunion, dem kulturrevolutionären
China, dem anarchistischen Spanien oder auch in der DDR spielen in der Debatte
im Moment gar keine Rolle. Viele vertreten einfach ohne kritische Reflektion die
sozialdemokratische Ideologie der 1970er, die sich vor allem gegen
Studiengebühren und „Leistungsorientierung“ richtet. In diesem Zusammenhang ist
die Frage interessant, ob sich die Bedeutung und Funktion von Bildung und Wissen
im Post-Fordismus grundlegend gewandelt hat und daher auch Alternativen zum
bestehenden Bildungswesen neu formuliert werden müssen.


3. Was heißt
kritische Wissenschaft oder Widerstand heute? Gibt es in anderen Ländern
Ansätze, von denen wir etwas lernen können? Es geht darum, eine offensive Kritik
zu entwickeln und eine politische Kraft jenseits der „neo-liberalen
ReformerInnen“ und der „unheiligen Allianz“ gegen alle Veränderungen aufzubauen.


4. Macht es Sinn
Forderungen aufzustellen oder programmatische Überlegungen zu entwickeln? Bei
der „Uni brennt“-Bewegung 2009 wurde ein Forderungskatalog
[3]
entwickelt, der später kaum noch diskutiert wurde.


Ein Netzwerk an
der Universität Wien und in Österreich kann nur ein Anfang sein. Die
Internationalisierung der Bildungsapparate wird auch uns früher oder später zur
Internationalisierung der Organisierung zwingen.


E-Mail:
Anton.pam@gmx.net








[1]

Andre Gorz
(1971): „Zerschlagt die Universität“ http://www.grundrisse.net/grundrisse24/ZerschlagtDieUniversitaet.htm





[2]

 „Peer Review“
bedeutet, dass mindestens zwei externe Gutachter, die dem Autor nicht
bekannt sind, den anonymisierten Artikel begutachten. Auf Grund der
Bewertungen entscheidet dann die Redaktion über die Veröffentlichungen.
Im deutschsprachigen Raum gibt es hingegen nur Änderungsvorschläge der
Redaktion. Die meisten wissenschaftlichen Verlage in Deutschland und
Österreich drucken bei Büchern immer noch einfach die Manuskripte ab,
ohne Review oder Editieren.


Read more at www.grundrisse.net
 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen