Dienstag, 29. November 2011

--->>> #Frei­heit #wei­ter #den­ken [via Gegenblende]

>Freiheit ist für uns nicht nur ein politischer Begriff, sondern vor allem auch eine soziale Kategorie. Wir wissen, dass die Freiheit des Menschen außerhalb seines Arbeitslebens nicht vollständig und gesichert ist, solange der Mensch in seinem Arbeitsleben der Herrschaft anderer unterworfen bleibt.< (Otto Brenner)

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Freiheit weiter denken

Wofür stehen die Gewerkschaften?

von:
Prof. Dr. Alex Demirovic, Prof. Dr. Martin Allespach und Lothar Wentzel

Die Arbeiterbewegung - und mit ihr die Gewerkschaften - verstanden sich von Beginn ihrer Existenz an ganz selbstverständlich als Freiheitsbewegung: Die Befreiung der Arbeit und die vom halbfeudalen politischen System des wilhelminischen Reichs sollten Hand in Hand gehen. Auf Fahnen, Spruchbändern und gestickten Wandbehangen fand sich immer der Begriff Freiheit neben Gerechtigkeit und Solidarität. „Nie kämpft es sich schlecht für Freiheit und Recht“ war eine der beliebtesten politischen Losungen, „Bruder zur Sonne, zur Freiheit“ eines der bekanntesten Lieder der Arbeiterbewegung.

Heute dagegen gibt es keinen anspruchsvollen Diskurs über Freiheit in den Gewerkschaften. Ohne eine neue Verständigung über den Freiheitsbegriff wird die organisierte Arbeiterbewegung aber kaum gegenwärtigen Herausforderungen begegnen können. Dabei steht die Gewerkschaftsbewegung dezidiert in der Tradition der Aufklärung und des Freiheitsdenkens. Eines ihrer wichtigsten Ziele ist, den Gedanken der Freiheit in der konkreten Welt des alltäglichen Lebens zu verwirklichen. Sie dringt darauf, den Bereich der gesellschaftlich hergestellten Zwänge zurückzudrängen. Damit richtet sie sich gegen jede naturhaft erscheinende Sachzwanglogik, die die herrschaftlich gemachten Gesetze der Ökonomie oder der Technik, aber auch der Politik den Menschen auferlegen.

Der Schutz der bürgerlichen Freiheiten

Bis zum Ende des deutschen Kaiserreichs stand der Freiheitsgedanke – gegen obrigkeitliche Unterdrückung – im Mittelpunkt der Bewegung. Doch in der Weimarer Republik änderte sich das; das Verhältnis zum Freiheitsbegriff wurde kritischer. Als trotz Freiheitsrechten und parlamentarischer Demokratie die Kapitalseite ähnlich aggressiv, ja manchmal schärfer auftrat als vor 1914 und große Teile des Bürgertums antidemokratische Bewegungen unterstützten, wuchsen die Strömungen in der Arbeiterbewegung, die für eine zumindest zeitlich begrenzte Aufhebung von Freiheitsrechten eintraten, um die Kapitalherrschaft tatsächlich brechen zu können. Damit war der Freiheitsbegriff selbst zum Streitobjekt innerhalb der Arbeiterbewegung geworden. Diese Tendenz zum Autoritarismus wirkt bis heute in die Gewerkschaften hinein.

Die Verfolgung und Zerschlagung der organisierten Arbeiterbewegung durch Faschismus ebenso wie die Erfahrung autoritärer Tendenzen innerhalb der Linken fügten dem gewerkschaftlichen Verständnis von Freiheit eine weitere Bedeutungsschicht hinzu. Die Sensibilität für die „bürgerlichen“ Freiheitsrechte wurde großer. Die Gewerkschaften betonten ihre maßgebliche Rolle bei der Verteidigung der Demokratie gegen autoritäre Kräfte im Westen wie im Osten. Dem Begriff der Freiheit von unmittelbarer politischer Bevormundung und Unterdrückung fügten sie die soziale Bedeutung einer „Freiheit von Ausbeutung und Not“[1] hinzu. Sie gingen damit über einen bloß negativen Begriff der Freiheit als Abwesenheit von Zwang hinaus und entwickelten ein positives Verständnis: eine Freiheit wozu. Freiheit sollte auch die wachsende Möglichkeit zur Selbstbestimmung und Gestaltung der Lebensverhältnisse beinhalten, in der politischen Sphäre ebenso wie in den alltäglichen sozialen und ökonomischen Lebensbereichen der Individuen.

Otto Brenner brachte 1961 den Zusammenhang beider Welten auf den Punkt: „Freiheit ist für uns nicht nur ein politischer Begriff, sondern vor allem auch eine soziale Kategorie. Wir wissen, dass die Freiheit des Menschen außerhalb seines Arbeitslebens nicht vollständig und gesichert ist, solange der Mensch in seinem Arbeitsleben der Herrschaft anderer unterworfen bleibt.“[2] Politische Freiheitsrechte sollten um die Dimension positiver, sozialer Freiheitsrechte erweitert werden, politische Freiheit in sozialer Freiheit abgesichert werden und ihre Grundlage finden. In der Nachkriegszeit konnten die Gewerkschaften durch die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsverhältnisse und den Ausbau des Wohlfahrtsstaates wesentlich zur Erweiterung der Voraussetzungen für soziale Freiheit beitragen. Dieser Zusammenhang wurde in den Gewerkschaften aber wenig diskutiert und war als politisches Programm der breiten Öffentlichkeit kaum bewusst.

Die marktradikale Wende in den 1980er Jahren konnte diese Lücke ausnutzen. Die Gewerkschaften hatten die Begriffe von Freiheit und Autonomie nicht hinreichend fortentwickelt. Das grundsätzlich schwierige und widersprüchliche Verhältnis von Gleichheit, Freiheit und Solidarität war in keine neue, zeitgemäße Balance gebracht worden. So konnte Gleichheit von den Neokonservativen und -liberalen einmal mehr mit der negativen Bedeutung der Gleichmacherei und Gleichförmigkeit, mit „Masse“ statt mit freier „Individualität“ versehen werden: Gleichheit scheint demnach den unterschiedlichen Lebensformen, den Fähigkeiten, den Leistungen und dem Engagement der Individuen nicht angemessen Rechnung zu tragen. Dass eine differenzierte soziale Gleichheit eine Bedingung und ein wesentliches Element für individuelle Entfaltung, für das Gluck der Einzelnen, den inneren Frieden eines Gemeinwesens, für einen demokratischen Umgang der Gesellschaft mit ihren Problemen ist – bis hin zu ihrer Lösungsfähigkeit bei ökologischen Herausforderungen – sollte vergessen gemacht werden.

Auch Solidarität galt plötzlich als überholt. Sie wurde als Gutmenschentum und soziale Nostalgie abgetan. Tatsächlich hat die traditionell über ähnliche Lebensformen und Milieus vermittelte Solidarität heute an Bedeutung verloren. Die nicht zuletzt aufgrund gewerkschaftlicher Erfolge möglich gewordenen vielfältigen Lebensformen sind mit starken Wünschen nach Freiheit, nach individueller Differenz und Lebensgestaltung, nach höherer Qualifikation, nach sinnvoller und guter Arbeit oder neuen Formen der Beziehung zwischen Geschlechtern und der Arbeitsteilung zwischen ihnen verbunden. Solidarität nimmt damit einen anderen Charakter an. Sie entsteht nicht mehr quasi naturwüchsig aus gemeinsamen Lebensverhältnissen, sondern muss viel stärker in politischen und kulturellen Praktiken und Diskursen hergestellt werden. Sie erhält eher den Charakter eines immer wieder zu erneuernden Bündnisses aufgrund der Einsicht in gemeinsame Interessen. Dies schließt das Gefühl von Zusammenhalt und Bindung nicht aus, erfordert aber zugleich ein hohes Maß an Respekt vor der besonderen Lebens- und Interessenlage des Einzelnen. Diese neuen Formen der Solidarität erweisen sich durchaus als wirkungsvoll; sie setzen Kreativität und Initiative bei den Beteiligten frei und führen auch zu emotionaler Verbundenheit. Aber sie verlangen auch ein anderes Selbstverständnis und entsprechende Formen des Dialoges und der Beteiligung.

Die Ideologie der Individualität

Der wohl wirkungsvollste Angriff der neoliberalen Strategie stützt sich auf die Idee der individuellen Autonomie.[3] Die Gewerkschaften wurden mit einem extrem zugespitzten individualistischen Begriff von Freiheit und Eigenverantwortung konfrontiert. Der radikalen marktwirtschaftlichen Freiheit entspricht eine ebensolche Idee von persönlicher Unabhängigkeit. Beides, so das neoliberale Versprechen, soll auf lange Sicht der Garant der individuellen ebenso wie der gesellschaftlichen Wohlfahrt sein.

Dieses Konstrukt der Freiheit als Eigenverantwortung legt dem Einzelnen die ganze Last für sein soziales Schicksal und alle Lebensrisiken auf. Freiheit wird nicht als konkrete und gesellschaftlich vermittelte verstanden, die allein in der Kooperation und im Zusammenleben mit anderen verwirklicht werden kann. Ein solches Verständnis von Freiheit ist deswegen offenkundig unrealistisch und hat für die allermeisten Mitglieder der Gesellschaft und die Gesellschaft als ganze problematische, zerstörerische Folgen. Der gewerkschaftlichen Konzeption der Solidarität steht dies diametral entgegen.

Es fiel und fällt den Gewerkschaften bis heute nicht leicht, mit diesem Angriff auf die Grundlagen ihres Denkens umzugehen. Mit Erstaunen und Enttäuschung mussten sie zur Kenntnis nehmen, dass neoliberal ausgerichtete Vorstellungen von Freiheit gerade bei jüngeren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern durchaus Anklang finden. Deren Selbstverwirklichungswünsche wurden aufgegriffen oder verstärkt und auf die Ebene des Konsums gelenkt, wo die verschiedenen Bedürfnisse abgetastet, neue geschaffen und durch Marktangebote intensiviert werden. In die Lebensweise wurden eine Vielzahl von Momenten individualisierter, raffiniert kommerzialisierter Freiheit eingebaut: abweichende Konsumgewohnheiten, unkonventionelle Lebensstile, die ihren Ausdruck im Sport, in der Kleidung, im Reisen, der Wohnform oder der Automobilität suchen. Auch auf der betrieblichen Ebene gelang es in einigen Bereichen mit Erfolg, solche Verhaltensdispositionen durch individualisierte Arbeitsverhältnisse aufzugreifen („Arbeitskraftunternehmer“) und zur indirekten Steuerung und Leistungssteigerung zu nutzen.

Der Appell an Selbstverantwortung stößt noch immer auf positive Resonanz: Niemandem Rechenschaft ablegen zu müssen, keine übergeordneten sozialen Instanzen in Anspruch zu nehmen, sich völlig individuell abzusichern und seine berufliche Stellung ausschließlich kraft eigener Leistung zu erarbeiten – die Appelle an Leistungsstolz und Autonomie waren und sind verführerisch.

Der Erfolg dieses Konzeptes darf allerdings auch nicht überschätzt werden. In den Betrieben wurde das Autonomieversprechen der neuen Managementkonzepte vielfach enttäuscht, Unsicherheit und Prekarisierung hielten Einzug. Hinsichtlich des Sozialstaats und der Idee des sozialen Ausgleichs lässt das vorhandene empirische Material keinen Zweifel, dass beide nach wie vor tief in der deutschen Bevölkerung verankert sind – auch über die Generationen hinweg. Sicher hat auch die Finanzkrise einiges zur Ernüchterung gegenüber einem neoliberalen Freiheitsverständnis beigetragen, das nur wenigen Vermögensbesitzern nutzt.

Das Comeback der Freiheit

Dennoch, die Herausforderung bleibt: Fragen von Freiheit und individueller Autonomie haben heute einen viel höheren Stellenwert als jemals zuvor. Das ist grundsätzlich zu begrüßen, und gerade die Gewerkschaften haben allen Grund, dies als Ergebnis eigener Bemühungen zu erkennen. In ihrer Konkurrenz fordernden, ausgrenzenden, extrem individualistischen und vereinzelnden Form allerdings sind diese Autonomiebestrebungen für Gewerkschaften hochproblematisch. Dagegen ist der reflektierte, seinen gesellschaftlichen Voraussetzungen bewusste Wunsch nach Autonomie und Selbstbestimmung ein Kernbestandteil einer zukunftsfähigen politischen Programmatik der Gewerkschaften, wie sie zum Beispiel im Rahmen der „Kurswechsel-Debatte“ in der IG Metall diskutiert wird.

Die Gewerkschaften sollten an den emanzipatorischen Potenzen, die in den Autonomiewünschen stecken, anknüpfen. Individuelle Autonomiewünsche müssen respektiert und mit gesellschaftlicher Verantwortung versöhnt werden. Das Verhältnis von Freiheit und Solidarität sollte neu überdacht werden. Eine Selbstbestimmung, die weiß, das es Freiheit nur geben kann, wenn sie für alle gilt, und eine Gesellschaft, die Bedingungen für individuelle Autonomie schafft, die nicht zu Lasten anderer geht, sondern sich gegenseitig bestärkt, sollten zentraler Bezugspunkt für die gewerkschaftliche Diskussion sein.

Für Gewerkschaften wird es immer wichtiger, offensiv und öffentlich wahrnehmbar der marktradikalen Verkrüppelung des Freiheitsbegriffes entgegenzutreten und ihre eigenen, emanzipatorischen Vorstellungen von Freiheit, Selbstbestimmung und Selbstverantwortung in die Debatte einzubringen. Der Freiheitsbegriff muss den marktradikalen Akteuren streitig gemacht und seiner Deformation muss entgegengetreten werden. Das wirksamste Mittel dafür ist die Aufklarung darüber, welche Machtstrukturen der vermeintlich freien politischen und gesellschaftlichen Landschaft zugrunde liegen.

Heute werden Entscheidungen in großem Maße in informellen Zirkeln, Politiknetzwerken oder in den anonymisierten Prozessen quasi-systemischer Abläufe getroffen. Obwohl viele Entscheidungen oder Nicht-Entscheidungen das Gemeinwesen als Ganzes betreffen – Standortverlagerungen, Investitionen, die Wahl von Technologien oder die Entwicklung von Produkten –, gelten sie als nicht politisch, nicht allgemeinverbindlich. Es handelt sich dabei um vielfach verflochtene politische Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse unter Beteiligung zahlreicher Akteure, die jedoch oftmals nicht demokratisch legitimiert und öffentlich kaum kontrolliert sind. Im Zentrum dieser netzwerkartigen Politik stehen die Problemlösung und Steuerung – der Output, das an Partikularinteressen orientierte Ergebnis –, nicht jedoch das Interesse aller und demokratische Partizipation. Letztere wird sogar als hinderlich, ja irrational dargestellt: Die öffentliche Diskussion verschleppe und zerrede Entscheidungen, schnelles Entscheiden werde behindert, heißt es dann.

Weiten Teilen der Gesellschaft gilt die angebliche Alternativlosigkeit – der Sachzwang – als unvermeidlich. Er gewahrt jedoch nur denen große Freiheit, die aus diesen zwanghaften Abläufen der Gesellschaft Gewinn für sich ziehen können. Viele Kapitaleigner und Vermögensbesitzer erheben nicht einmal den Anspruch, die von ihnen verteidigten gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten, die vor allem ihnen nutzen, grundlegend erkennen zu wollen, um sie auf kontrollierte Weise nutzen zu können. Radikal spricht dies Friedrich von Hayek aus: Der Markt sei das Ergebnis der Evolution, keine menschliche Einrichtung, und deswegen auch nicht von Menschen zu lenken. Er betont, dass der Markt dem Verfahren eines Glücksspiels gleicht, in dem es regelmäßig Gewinner und Verlierer gibt.[4]

Es stimmt, wenn Hayek sagt, dass das Ergebnis in diesem Spiel keiner vorangegangenen Leistung entspricht. Es stimmt jedoch nicht, wenn er behauptet, das Ergebnis sei unvorhersagbar. Im Gegenteil: Es gewinnen in diesem Spiel immer diejenigen, die die Bank halten und die Spielregeln bestimmen. Trotz all seiner Blindheit, die nicht einmal Leistung belohnt, soll bei Hayek und Co. am Markt einschränkungslos festgehalten werden, weil er nicht nur aus der Evolution hervorgegangen sei, sondern der Logik der Evolution selbst entspräche und sich bei der Auswahl der Glücklichen bewähre.

Hayeks Überlegung kommt ohne Zweifel dem bewussten Verzicht auf Aufklarung und Einsicht gleich – und damit dem Verzicht auf Freiheit. Dort, wo Liberale sich auf den Kern des bürgerlichen Weltbildes berufen und propagieren, dass Leistung sich wieder lohnen müsse, dort, wo sie zwischen Leistung und Verdienst einen sinnvollen Zusammenhang vermuten, der die gesellschaftlichen Verhältnisse rechtfertigt, lugen sie entweder zynisch oder täuschen sich selbst. Sie sollten Hayek lesen.

Dies konnte ihnen auch Klarheit über einen grundlegenden Selbstwiderspruch des liberalen Freiheitsbegriffs bringen: Sie führen die Freiheit zwar im Schilde, wollen sie aber nicht wirklich. Stattdessen plädieren sie für die Unterwerfung unter die abstrakten Gesetze des Marktes und seiner Zwänge. Die gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten wurden jedoch nicht von der Evolution herbeigeführt, sondern von Menschen eingerichtet. In aller Freiheit können sie deswegen von den Menschen auch verändert werden. Doch daran reicht das liberale Freiheitsverständnis nicht heran. Es versteht sich nur als negativ. Als Freiheit gilt allein die Freiheit von staatlichem Zwang, von Einmischung anderer. Die Individuen sollen tun dürfen, was sie wollen und wünschen; sie sollen auf ihre je eigene Weise glücklich sein dürfen. Aber was ist mit denjenigen, die keine Ressourcen zur Verwirklichung ihrer Wünsche haben – und seien diese noch so elementar?

Die Freiheit der Starken

Eine solche Freiheit ist somit keineswegs nur „negativ“ – im Sinne einer Einschränkung der Macht des Staates. Faktisch läuft sie auf eine Freiheit der Starken hinaus. Um deren Willkür einzugrenzen, muss die Freiheit mit Zwangsmitteln soweit eingeschränkt werden, dass die Freiheit der anderen, ihrerseits das zu tun, was sie wollen, nicht beeinträchtigt wird. Dies geschieht mit Hilfe des Rechtsstaats. Er steckt den Individuen je eine Parzelle privaten Rechts ab, in der sie ihre Freiheit genießen können. Sofern sie über die vom Staat mit Verboten kontrollierte Grenze hinausgehen und die Freiheit der anderen beeinträchtigen, greift der Staat ein.

Freiheit ist hier allein Freiheit von etwas und von den anderen Individuen. Liberale Freiheit trennt die Individuen voreinander. Doch dieser liberale, negative Begriff rechtsstaatlich gesicherter Freiheit versagt in zwei Hinsichten. Er steht in keinem notwendigen Zusammenhang mit Demokratie, sondern ist durchaus mit autokratischer Herrschaft vereinbar.[5] Denn im Sinne dieses Freiheitsverständnisses stellt sich gar nicht die Frage, ob auch alle demokratisch an den kollektiv verbindlichen Entscheidungen beteiligt sind. Im Gegenteil hat der Liberalismus eine Tendenz zur notorischen Ablehnung der Gewerkschaften, weil sie aus dessen Sicht ein Monopol auf die Vertretung von Beschäftigteninteressen errichten, so die Vertragsfreiheit der Einzelnen begrenzen und damit die Wirksamkeit des Marktes verzerren.

Dies führt zum zweiten Widerspruch. Aufgrund einer zweifelhaften Unterscheidung von öffentlich und privat wird die Verfügungsgewalt über die gesellschaftlichen Ressourcen, also die Entscheidungen über Produktionsmittel, Investitionen, Produktionsverfahren, Produkte oder Standortverlagerungen allein zum privaten Bereich gezählt. Unternehmen, die doch so wichtig sind für die Allgemeinheit, werden nicht als öffentliche Institutionen begriffen. Dies macht es zwar möglich, dass die Individuen zwar in der Sphäre der Politik Bürgerinnen und Bürger mit verfassungsmäßigen Mitspracherechten sind und sich an der Gestaltung des Gemeinwesens beteiligen können. Doch in der Arbeitswelt bestehen weitgehend Obrigkeitsverhältnisse fort, die die existierende Kooperation unterlaufen. Unter dem Druck der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen und der Shareholder-Value-Orientierung konnten sie in den letzten 30 Jahren zu Lasten der abhängig Beschäftigten sogar wieder verschärft werden.

Der (neo)liberale Freiheitsbegriff muss daher entzaubert werden. Denn die Erfahrungen mit einer solchen Freiheit sind widersprüchlich genug. Oft werden die Menschenrechte und die rechtsstaatlich verbürgten Grundrechte des Gewinns wegen ignoriert oder verletzt. Lohnabhängig beschäftigte Bürgerinnen und Bürger erfahren nicht demokratische Beteiligung und Gesamtinteresse, sondern Egoismus der Vermögenden und staatliche Kontrollbürokratie. Der Arbeitsmarkt halt gleichsam Arbeitslosigkeit, Niedriglohnsektor und prekäre Beschäftigung bereit. Die Produktion wird teilweise retaylorisiert oder die vom Lohn Abhängigen als Arbeitskraftunternehmer dem Diktat marktgesteuerter Selbstausbeutung unterworfen; die tägliche, wöchentliche und Lebensarbeitszeit nimmt trotz höherer Produktivität tendenziell zu, durch Verdichtung des Arbeitsprozesses wird die Leistungsabgabe teilweise bis zur Erschöpfung verstärkt. An den Arbeitsplätzen nehmen die Unsicherheit und die Entsolidarisierung durch immer neue Managementstrategien, ständige betriebliche Reorganisationen, unsichere Beschäftigungsverhältnisse und kaum erfüllbare Gewinnerwartungen zu.

Die Bedingungen von Freiheit entsprechen auch außerhalb der Betriebe kaum den neoliberalen Versprechungen. Öffentliche Guter werden dem Umfang und der Qualität nach eingeschränkt. Die Arena des Konsums suggeriert eine Welt der Freiheit, führt aber in Wirklichkeit zu mehr Entmündigung und Fremdbestimmung. Wer versucht, Produkte zu kaufen, die unter „fairen“ Bedingungen produziert worden sind, hat kaum eine Chance. Zuverlässige Ökobilanzen liegen nur für wenige Produkte vor. Inhaltsstoffe und Wirkungen von Produkten sind für den Laien immer weniger verständlich. Sich tatsächlich kundig zu machen, würde viel Zeit beanspruchen – und selbst dann wäre das Resultat zweifelhaft. Undurchschaubarkeit und leere Glücksversprechungen in einem noch nie da gewesenen Ausmaß drohen die selbstbestimmte Zeit aufzufressen. Dabei ist diese Zeit, jenseits der eigenen Reproduktion, eine entscheidende Voraussetzung für Freiheit. Gegen den Mangel an Mitsprache und Demokratie im Bereich der Wirtschaft haben sich Gewerkschaften im Laufe der Jahrzehnte ihrer Existenz immer wieder gewandt und einen positiven Begriff der Freiheit in Anspruch genommen.

Aktuell steht die Gewerkschaftsbewegung ohne Zweifel jedoch vor der Herausforderung, sich nicht nur auf die eigene Freiheitstradition zu besinnen und dem Begriff der Freiheit wieder mehr Wert beizumessen, sondern mehr noch: seiner Bedeutung auch neue Akzente zu verleihen, die der gegenwärtigen Lebensrealität der Lohnabhängigen angemessen ist. Einer Lebensrealität, die von den Gewerkschaften verlangt, sich nicht allein auf die Interessen derjenigen zu beschränken, die in den Grenzen des jeweils eigenen Nationalstaats leben und vielleicht das Glück haben, gewisse und allzu schnell gefährdete Freiheitsrechte zu genießen, sondern mit dem Begriff der Freiheit einen schon längst globalen Begriff der inklusiven Solidarität und der differenzierten Gleichheit zu verknüpfen.

Der Schutz der negativen und der positiven Freiheit

ihr Leben durch andere und den Staat. Dies schließt aber auch eine Verteidigung der individuel

Doch im Sinne einer freien Entscheidung über zukünftige gesellschaftliche Entwicklungsperspektiven sollten die Gewerkschaften darüber hinaus ihr positives Verständnis von Freiheit weiter entwickeln. Diese positive Freiheit meint, dass die Menschen sich gemeinsam über die Ziele der gesellschaftlichen Entwicklung, ihre Ausgestaltung und ihre Maßstäbe verständigen. In den vergangenen Jahrzehnten haben sich in den internationalen Diskussionen als solch integrierte Ziele die soziale, ökologische und demokratische Nachhaltigkeit sowie das „gute Leben“ herausgebildet. Diese dienen in all ihrer Vorläufigkeit dazu, einen Ermöglichungsraum für individuelle und kollektive Selbstbestimmung sowie die Voraussetzung für ein gutes Leben zu schaffen.

Im Folgenden sollen hier ohne Anspruch auf Vollständigkeit nur einige Bedingungen angeführt werden, die überhaupt erst ein Leben in Freiheit erlauben.

Als Erstes ist die ökonomische Absicherung zu nennen. Das bedeutet tariflich gesicherte Arbeitsverhältnisse, die entwicklungsfördernd sind und Mitbestimmungsmöglichkeiten beinhalten. Dazu zählen auch eine bedarfsgerechte Grundsicherung und Mindestrente. Darin besteht über die unmittelbare Subsistenzsicherung hinaus auch ein Moment von Lebensqualität, weil mit der materiellen Sicherheit ein Zeithorizont geschaffen wird, in dem die Individuen ihr Leben erwartungssicher planen können und über ihre Zeit nach Maßgabe der gesellschaftlichen Möglichkeiten souverän entscheiden können. Zu den unmittelbaren materiellen Aspekten gehört auch eine Absicherung gegen Lebensrisiken, die die Individuen nicht nur negativ schützt, sondern ihnen auch Entwicklungsmöglichkeiten und Lebensqualität gibt.

Zweitens ist ein Bildungssystem notwendig, das nicht nur den Erwartungen des Arbeitsmarkts und der technologischen Entwicklung entspricht, sondern auch die Voraussetzungen für eine Teilhabe an den politisch-demokratischen Prozessen und der Kultur der Gesellschaft schafft.

Die Gewerkschaften sollten drittens aus dem Blickwinkel der Freiheit auch für differenzierte Gleichheit eintreten, also dafür, dass der Zugang zu gesellschaftlichen Positionen der Möglichkeit nach allen offen steht, einschließlich der dazu nötigen Angleichung der Einkommensverhältnisse.

Mehr Demokratie und Öffentlichkeit wagen

Zur Wahrnehmung von Freiheit gehören jedoch nicht nur ökonomische und ökologisch nachhaltige Verhältnisse, dazu gehören auch Formen der öffentlichen Kommunikation, die alle gesellschaftlichen Bereiche durchzieht und mit Information und Diskussion zur offenen und kritischen Meinungsbildung beiträgt.

Es kommt deshalb darauf an, den erforderlichen sozial-ökologischen Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft mit (mehr) Demokratie und Öffentlichkeit zu verbinden.[6] Die Entscheidungen müssen heraus aus dem Arkanbereich der politischen Lobbys und Hinterzimmer. Auch vermeintlich subpolitische Entscheidungen sind von öffentlichem Gewicht und gesamtgesellschaftlicher Bedeutung und sollten sich deswegen unter Beteiligung aller vollziehen. Dies entspricht dem demokratischen Grundsatz, dass allen von den gesellschaftlichen Prozessen Betroffenen das demokratische Recht zusteht, über sie zu entscheiden – umso mehr gilt dies, wenn das individuelle und das gemeinsame Leben durch die Gesellschaft, die es gewährleisten soll, selbst gefährdet werden. Nur so können Einzel- und Allgemeininteresse miteinander verbunden werden.

Politische Freiheiten und Beteiligungsmöglichkeiten der Bevölkerung müssen folglich verbessert werden. Dort, wo die Institutionen der Demokratie Erosionstendenzen erkennen lassen, sind (re-)demokratisierende Anstrengungen dringend geboten – auf allen politischen Ebenen, von der Kommune bis zum Europäischen Parlament. Es sollten zudem Möglichkeiten zur politischen Einflussnahme durch den Ausbau von Formen der Demokratie in der Wirtschaft geschaffen bzw. verbessert werden. Ein ökologischer Umbau unserer Ökonomie, der soziale Verwerfungen vermeidet, unnötige Widerstande verhindert und zu einer Vertiefung demokratischer Strukturen beitragt, kann nur mit einer intensiven Beteiligung der Beschäftigten gelingen.

Ein solcher Entwicklungspfad zielt auf gesellschaftliche Verhältnisse, die Selbstbestimmung ermöglichen, ohne Solidarität zu verletzten, in also denen „jeder ohne Angst verschieden sein kann“ (Adorno). Ein solcher Pfad kann den berechtigten Autonomiewünschen der Menschen sinnvoll begegnen, ohne sie zu bevormunden. Und er ist von Verbesserungen im alltäglichen Leben abhängig, für die die Gewerkschaften ein entscheidendes Forum sind und bleiben werden.

Der Beitrag erschien erstmals in "Blätter für deutsche und internationale Politik" 10/2011, S. 75ff.

[1] Otto Brenner, Demokratie, Freiheit und Menschenwürde, in: ders., Ausgewählte Reden 1946-1971, Frankfurt a.M. 2007, S. 204.


[2] Zit. nach Heinz-J. Bontrup, Die Wirtschaft braucht Demokratie, in: Heinz-J. Bontrup, Julia Müller u. a., Wirtschaftsdemokratie, Hamburg 2006, S. 19.


[3] Luc Boltanski und Eve Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2003.


[4] Friedrich von Hayek, Recht, Gesetz und Freiheit, Tübingen 2003, S. 221 f.


[5] Isaiah Berlin, Freiheit. Vier Versuche, Frankfurt a.M. 1995, S. 207.


[6] Martin Allespach, Alex Demirovic´ und Lothar Wentzel, Demokratie wagen! Gewerkschaftspolitik wider die Krise, in: „Blätter“, 2/2009, S. 95-105.

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