Montag, 24. Januar 2011

Leseprobe zu #Meinungsmache. Wie Wirtschaft, Politik und Medien uns das #Denken #abgewöhnen #wollen [via Nachdenkseiten]


Leseproben zu

"Meinungsmache. Wie Wirtschaft, Politik und Medien uns das Denken abgewöhnen wollen"

Meinungsmache

(Nachdenkseiten)

http://www.nachdenkseiten.de/?page_id=4138


  1. Einführung
    Jeder dritte Deutsche hat kein Vertrauen mehr in die demokratische Staatsform, in Ostdeutschland sind es sogar 53 Prozent. Das hat Konsequenzen: Das Interesse an Politik schwindet. Die Wahlbeteiligung bei der letzten Landtagswahl in Sachsen-Anhalt 2006 lag bei 44,4 Prozent – und war die bisher niedrigste auf Bundes- und Landesebene. Der dann weiterregierende Ministerpräsident Wolfgang Böhmer (CDU) ist von gerade mal 15,7 Prozent der Wahlberechtigten gewählt worden. Auch bei anderen Wahlen geht es mit dem Interesse der Wähler bergab; im Januar 2009 in Hessen von 64,3 auf 61 Prozent und davor in Hamburg von 68,7 auf 63,5 Prozent, zur Wahl des Oberbürgermeisters in Kiel am 15. März 2009 gingen gerade mal 36,5 Prozent der Wahlberechtigten und zur Europawahl 2009 nur 43,3 Prozent. Ein Tiefpunkt. Fast überall gibt es historisch niedrige Wahlbeteiligungen.
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  • Vorbemerkung des Autors zu unser aller Betroffenheit
    Seit meiner Studienzeit beobachte ich das politische Geschehen und dabei insbesondere die Wege politischer Meinungsbildung und ihre Bedeutung für politische Entscheidungen. Als Student der Nationalökonomie habe ich mich damit beschäftigt, welche Wirkung Sprache in der Wirtschaftspolitik als Träger von Vor urteilen hat, und außerhalb meines Fachbereichs damit, welche Bedeutung der Propaganda beim Niedergang der Weimarer Republik zukam. Später musste ich berufl ich die Wege der Meinungsmache beobachten und selbst – mit anderen zusammen – Strategien der Meinungsbeeinflussung entwickeln. Als Redenschreiber des Bundeswirtschaftsministers Karl Schiller in den Jahren 1968 und 1969, danach als Verantwortlicher für Willy Brandts Wahlkampf und dann als Leiter der Planungsabteilung im Bundeskanzleramt bei Brandt und Schmidt war ich ständig mit diesem Sujet befasst.
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  • Auszug aus "Meinungsmache", Seite 426 bis 428:
    Die Methoden der Manipulation kennen und durchschauen

    Auch unter Gleichgesinnten ist es nicht leicht, skeptisch zu sein.
    Der Kopf rät zum Misstrauen, und das Gefühl verlangt nach Vertrauen.
    Zum Zweifeln muss man sich entschließen und es gemeinsam mit anderen systematisch betreiben. Dabei hilft die Kenntnis der Methoden der Manipulation, die oben ausführlich beschrieben sind:

    • Wiederholung. Zum Beispiel: »Demographischer Wandel und Globalisierung sind die beiden großen Herausforderungen« oder: »Die Finanzkrise kam aus Amerika«.
    • Eine Botschaft wird von verschiedenen, sich unterscheidenden Absendern ausgesendet. Dann wird sie glaubwürdiger.
    • Nutzung des guten Klangs eines Wortes für einen anderen Zweck. Bestes Beispiel: »Reform«.
    • Gruppenspezifischer Jargon. »Freiheit«, »Leistung muss sich wieder lohnen« – solche Floskeln haben zwar kaum einen Bezug zur Realität, aber um bei der Mehrheit der üblichen Talkshowgäste oder beim Auditorium von Guido Westerwelle zu bestehen, reichen die Signale.
    • Affirmativ auftreten. Das können Angela Merkel und Peer Steinbrück wie auch schon Gerhard Schröder herausragend gut. Sie können belanglose Sachen als höchst bedeutsam verkaufen und Falsches als völlig richtig erscheinen lassen.
    • Die selbstverständliche Gültigkeit in der Sprache anklingen lassen. »Wie wir alle wissen«, »wie schon bekannt ist«, …
    • Auf Experten berufen. Die gängige Methode bei Börsensendungen, Wirtschaftsnachrichten und vielen anderen Foren.
    • »Tina«: There is no alternative. »Es gibt keine Alternative.«
    • Pars pro toto. Was für einen Teil gilt, wird auf die Gesamtheit als gültig übertragen.
    • Übertreibung. »Wortbruch«, »Freiheit statt Sozialismus«, »Gnadefür die 68er« – Motto: Irgendwas bleibt immer hängen.
    • Mit der Botschaft B wird die Botschaft A transportiert. Bewusst und unterbewusst und erst recht geplant wird diese Methode häufig eingesetzt.
    • Der (strategisch geplante) Konflikt zwischen zwei Personen als Transportband für eine zu vermittelnde Meinung.
    • Verschweigen, weglassen, ausblenden. Das gilt unter anderemfür die gesamten Fehler der Regierung Kohl und ihrer Berater bei der Gestaltung der deutschen Vereinigung, insbesondere der wirtschaftspolitischen Entscheidungen.
    • Umfragen nutzen, um Meinung zu machen. Dieses Instrument wird ständig gebraucht. Achten Sie einmal darauf, was »Stern« und »Spiegel Online« mit Hilfe von Forsa-Umfragen anstellen. Geradezu »mustergültig«.

    Wer diese Tipps kennt und beachtet, wird Meinungsbildungsvorgänge leichter durchschauen. Das ist eine wichtige Basis für den Aufbau einer Gegenöffentlichkeit.

  • Linksruck
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  • Kapitel 20 "Meinungsmache zur Sicherung von Macht und Einfluss", Seite 344-351:
    (Dieser Text stammt aus dem Manuskript; er kann in kleinen Details vom gedruckten Text abweichen)

    Wie man Mehrheiten gewinnt

    Angela Merkel und die Union können sicher sein, dass ihre Machterhaltungs- und Machtsicherungsstrategie von den Medien und Meinungsmachern nicht gestört, sondern unterstützt und gefördert wird. Das lässt sich an zwei zentralen strategischen Linien zeigen:

    • Anhand der für Volksparteien wichtigen Frage, ob es gelingt, die nötige Breite der Wähleransprache zu erreichen und abzusichern.
    • Anhand der Frage nach der Erweiterung der Koalitionsoptionen.

    Beide Fragen sind miteinander verbunden. Wie diese Ziele zu erreichen sind, lässt sich am besten dann nachvollziehen, wenn wir uns in die Rolle von Strategen der Union versetzen.

    Erstens: Neue Wählergruppen erschließen
    Als Planer einer Volkspartei weiß man, dass man den für den Führungsanspruch notwendigen Wähleranteil von 40 Prozent plus nur dann erreicht, wenn man ein breites Spektrum anspricht, den Mittelstand und die sich der Wirtschaft nahe Fühlenden genauso wie die Arbeitnehmer und ihre Familien; Menschen, die an traditionellen Familienstrukturen hängen, genauso wie Personen mit einem emanzipatorischen und individualistischen Lebensstil; Menschen, die den technischen Fortschritt hochhalten und alles realisieren wollen, was möglich ist, genauso wie ökologisch engagierte Kreise.

    Als Planer von CDU und CSU weiß man, dass die andere Volkspartei, die SPD, dann hervorragende Wahlergebnisse erreicht hat, wenn sie diese Breite der Ansprache beherrschte, so zuletzt 1998, als Schröder und Lafontaine gemeinsam Wahlkampf machten und der eine, Gerhard Schröder, eher die Aufsteiger ansprach, während der andere, Oskar Lafontaine, eher die an sozialer Gerechtigkeit und an ökologischer Erneuerung Interessierten ansprach. Auch Helmut Schmidts äußerst knapper Wahlsieg von 1976, als Helmut Kohl für die Union 48,6 Prozent erreichte, war der Arbeitsteilung mit dem Parteivorsitzenden Willy Brandt zu verdanken. Wenn es diese Arbeitsteilung zwischen Brandt und Schmidt nicht gegeben hätte, dann hätte Helmut Schmidt die Kanzlerschaft schon 1976 an Helmut Kohl verloren. Und das herausragende Ergebnis der SPD von 1972 ist ohne eine breit angelegte Zielgruppenplanung gar nicht denkbar[

  • 1]

    Auch die CDU und vor allem die CSU haben ihre großen Erfolge nur dann geschafft, wenn sie über den engeren Bereich traditionell wirtschaftsfreundlicher Wählerinnen und Wähler hinaus die Arbeitnehmerschaft bis hin zu gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern anzusprechen vermochten. Früher gab es dafür einen starken Arbeitnehmerflügel – lange Zeit versammelt um Hans Katzer, später um Norbert Blüm. Auf dem Leipziger Parteitag im Dezember 2003 jedoch wurde Norbert Blüm ausgepfiffen; Angela Merkel und die CDU legten sich auf einen einseitig wirtschaftsfreundlichen, neoliberalen Kurs fest. Das kam beim CDU-Wirtschaftsflügel gut an, aber es war nach Meinung einiger Kenner der Materie eine der Ursachen dafür, dass CDU und CSU bei der Bundestagswahl 2005 ihr selbstgestecktes Ziel, gemeinsam mit der FDP die neue Regierung zu bilden, nicht erreichten.
    In dieser Situation wird man als Planer der CDU/CSU dringend empfehlen, zumindest eine Imageerweiterung vorzunehmen, die sowohl den sozialen als auch den ökologischen Bereich umfassen sollte. Als Stratege wird man auch empfehlen, diese Imageerweiterung an Personen festzumachen und zur Erleichterung der Meinungsbildung Konflikte zwischen einzelnen Personen und Gruppen zuzulassen. Als Zuschauer und Zuhörer kennen wir die Ergebnisse dieser strategischen Planung:

    • Angela Merkel und eine Reihe anderer Unionspolitiker kritisieren laut und mit harten Worten "den Kapitalismus". Das kommt bei Linken gut an, auch bei solchen innerhalb der Grünen. Taten müssen daraus nicht folgen.
    • Sie beschweren sich lautstark über die "Gier" der Manager und der Spitzenverdiener. Das hindert sie aber nicht daran, sich gegen die Einführung von allgemein geltenden Mindestlöhnen zu stellen, Hedgefonds weiter steuerbefreit Tür und Tor zu öffnen, großen Vermögen mit einer Erbschaftssteuerreform noch mehr unter die Arme zu greifen und zu Lasten der Steuerzahler die Wettschulden der Banken zu übernehmen.
    • Jürgen Rüttgers, der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, profiliert sich als Arbeiterführer, er macht Vorschläge für eine Verlängerung des Arbeitslosengelds. Zwischen Merkel und Rüttgers gibt es Streit, Merkel beklagt sich über Rüttgers. Das läuft zwar der gängigen Meinung zuwider, für den Erfolg einer Volkspartei sei Geschlossenheit das Wichtigste, aber es hilft der Profilierung. Im Konflikt mit Rüttgers genauso wie im Konflikt mit der CSU.
    • Angela Merkel profiliert sich als Klimaschützerin. Sie reist zum Nordpol und empfängt Al Gore. Das kostet nichts. Ansonsten werden Straßen gebaut, Autobahnen privatisiert und erweitert und die Bahn aus der Verpflichtung entlassen, die ökologisch wichtige flächendeckende Versorgung sicherzustellen. Eine Geschwindigkeitsbegrenzung für Pkws und die naheliegende und notwendige Kerosinbesteuerung für Flugzeuge gibt es in Deutschland auch nicht.
    • Die Bundeskanzlerin profiliert sich als Menschenrechtlerin, beklagt sich über China, empfängt den Dalai Lama und parliert mit Alice Schwarzer – alles wichtige Signale mit Blick auf bisher der Union wenig geneigte Zielgruppen.

    Die Image-Erweiterung der Union seit dem Leipziger Parteitag vom Dezember 2003 ist professionell gemacht und sehr erfolgreich. Es waren zwar auch einige sachliche Korrekturen notwendig wie etwa beim Arbeitslosengeld I, aber diese Korrekturen betrafen nie den Kern der eigenen Position. Trotzdem hat es die Union erreicht, dass gesagt und geglaubt wird, Angela Merkel und ihre Partei hätten sich von Leipzig wegbewegt, der Dresdner Parteitag von 2007 habe die "Rückwende zum Sozialen" eingeleitet, wie die FAS schreibt.[

    2] Das geht so weit, dass einige Wissenschaftler und auch Vertreter der Jungen Union warnend von einer Sozialdemokratisierung der Union sprechen. Und Friedrich Merz geißelt den angeblichen Linksruck der Union. [3]

    Doch all das ist nicht das Spiegelbild der faktischen Politik, es sind Ergebnisse von Meinungsmache. Die politische Realität ist gekennzeichnet von Mehrwertsteuererhöhung und Unternehmensteuersenkungen, von Privatisierung und Ausverkauf, von Härte gegenüber den Schwächeren, von der Auslieferung unserer Universitäten an die Wirtschaft und von Rettungsschirmen für die Großen der Finanzindustrie. An der Agenda 2010 wird nur verbal gerüttelt. Tatsächlich stehen vermutlich neue Reformen dieser Art ins Haus. Tatsächlich hat die Regierung Merkel nichts getan zur besseren Kontrolle von Hedgefonds und der anderen großen Finanzgruppen. Ganz im Gegenteil: Sie werden weiter gefördert. Man hat den Eindruck, dass die Finanzwirtschaft nicht nur nahe am Ohr des sozialdemokratischen Finanzministers, sondern auch an dem der Bundeskanzlerin ist.

    "Ist Leipzig Geschichte?" fragte die Zeit in einem Bericht über den Dresdner Parteitag.[

    4] Der Vorsitzende des Wirtschaftsrats der Union, Kurt Lauk, antwortete: "So ein Quatsch!" Eine Abkehr von Leipzig? "Schauen Sie doch mal in den Leitantrag, den die CDU auf diesem Parteitag verabschiedet hat!" Der sei ein Spiegelbild der Forderungen des Wirtschaftsrats. Das würde man bei der ganzen Sozialrhetorik bloß nicht so mitbekommen, berichtete die Zeit.

    An den Äußerungen und Aktionen eines der Strategen der Union, von Heiner Geißler, werden die Konzeption und der Erfolg der Strategie des breiten Auftritts besonders deutlich: So ist Geißler zum Beispiel 2007 der Organisation attac beigetreten und hat wenig später verlautbart, die Ziele von attac und von Angela Merkel seien identisch. Damit hat er den Aktionsradius der Bundeskanzlerin erweitert und ihr ein Terrain von Personen und Gruppen zugänglich gemacht, das ihr und der Union bisher verschlossen war.

    Geißler betreibt diese Strategie zur Image-Erweiterung für seine Partei konsequent und mit bemerkenswerter Phantasie. In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung beispielsweise sagte er, Schröder habe mit der Agendapolitik die Seele der SPD verkauft, die Agenda 2010 habe Millionen Menschen enteignet und arm gemacht, und es sei Schröder und nicht Oskar Lafontaine, der dafür gesorgt habe. Der Kapitalismus sei nicht die Wirtschaftsform des Grundgesetzes, meinte Geißler, er könne sich einen humanen Sozialismus vorstellen; seine Parole für die Union wäre "Solidarität statt Kapitalismus".[

    5] Nach der Lektüre solcher Sätze wundere ich mich nicht mehr sehr darüber, dass ein so kritischer Zeitgenosse wie Günter Wallraff sagt, er stimme heute in vielen Dingen politisch mit Heiner Geißler überein.

    Dass auch Günter Wallraff von Rüttgers "sozialen Vorschlägen" spricht, zeigt, wie erfolgreich die Imageprägung ist.
    Welche Politik tatsächlich realisiert wird, zeigen dagegen die unverblümten Äußerungen von Innenminister Wolfgang Schäuble:

    CDU-Präsidiumsmitglied Wolfgang Schäuble sagte, das Thema soziale Gerechtigkeit sei zwar bedeutsam, müsse aber 'in der globalen Perspektive' gesehen werden. Der Bundesinnenminister fügte hinzu: 'Natürlich ist die Spanne zwischen denen, die bei uns nicht ruhig schlafen können, weil sie für ihr ererbtes Millionenvermögen Steuern zahlen müssen, und denen, die mit Hartz IV auskommen sollen, gewaltig. Aber wenn wir uns anschauen, wie die Lebenschancen für Chinesen, für Inder oder für Südamerikaner sind, relativiert sich das.[

    6]

    Geißler ist ein exzellentes Demonstrationsobjekt für die Strategie, eine Volkspartei breiter aufzustellen. Man hat den Eindruck, die Medien und die sonstigen Beobachter vor allem in der Wissenschaft haben ihre Freude an dieser gekonnten Wahlkampfstrategie. Die eigentlichen Größen im Hintergrund, die Vertreter des Wirtschaftsrats der Union und der Wirtschaft insgesamt, wissen sehr genau, dass es in ihrem Interesse ist, wenn die Union ihr Image in Richtung Soziales und Ökologisches erweitert und zugleich mit wenigen Abstrichen jene Politik macht, die in ihrem und insbesondere im Interesse der nationalen und internationalen Finanzwirtschaft ist.

    Zweitens: Neue Koalitionsoptionen erschließen
    Gelingt diese Strategie zur breiten personellen und programmatischen Aufstellung und die gezielte Ansprache des Multiplikatoren- und Wählerpotentials links von der Union, ist damit zugleich die Grundlage für eine neue Koalitionsstrategie geschaffen, die in Hamburg schon realisiert worden ist: Die Verbreiterung des Images zielt auch darauf, die Bildung von schwarz-grünen Koalitionen zu erleichtern für den Fall, dass es mit der FDP alleine nicht reicht. Um schwarz-grüne Koalitionen zu ermöglichen, müssen Brücken im ökologischen und im sozialen Bereich geschlagen werden. Die Doppelstrategie der Union, einerseits die Sozialdemokratie voll für die Agenda 2010 und die unseligen Reformen haftbar zu machen und andererseits mit Hilfe von Rüttgers, Geißler und der CSU selbst ein soziales Image aufzubauen, dient diesem Zweck.

    Für die einst undenkbare Koalition aus Schwarz und Grün haben nicht nur die genannten Personen Vorarbeit geleistet. Andere waren im Hintergrund damit beschäftigt, diese neue Koalitionsoption zu öffnen. Zum Beispiel der frühere Abteilungsleiter beim CDU-Vorstand und Mitarbeiter Geißlers in dessen Zeit als Generalsekretär, Warnfried Dettling, der mit seinen Artikeln – oft in der taz – in das linke und grüne Wählerpotential hineinwirkt. Oder der Politikwissenschaftler Joachim Raschke, der mit mehreren Beiträgen Schwarz-Grün in Hamburg mit vorbereitet hat. Als besonderes Prädikat einer schwarz-grünen Koalition hat Raschke herausgestellt, dass sich die beiden Parteien deutlich unterscheiden. Nach dieser neuen Theorie kommt es also bei Koalitionsbildungen nicht auf möglichst viele Gemeinsamkeiten und Schnittmengen an, sondern man muss sich ergänzen. Wenn man dieses Argument ein paarmal herumdreht, dann wirkt es sogar schlüssig. Jedenfalls nach einem ordentlichen Quantum Meinungsmache.

    Ohne vorbereitende Meinungsbildung wäre der Brückenschlag von Hamburg nicht möglich gewesen und wären auch weitere Brückenschläge nicht möglich. Wie groß die Rolle der Meinungsmache im Vorfeld solcher politischen Entwicklungen ist, kommt einem erst dann so richtig zu Bewusstsein, wenn man sich die Gegenseite anschaut: die Optionsverengung auf Seiten der SPD und den Niedergang der SPD und ihres Personals bei Wahlen und Umfragen.


    «1] Eine Analyse dieser Zielgruppenplanung – später "Scheibchenmodell" genannt – findet sich in Albrecht Müller: Willy wählen '72, Annweiler 1997, S. 138 ff.

    [

    «2] Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 26.11.2006

    [

    «3] Spiegel-Online vom 23.4.2008

    [

    «4] Die Zeit vom 4.12.2008

    [

    «5] Süddeutsche Zeitung vom 14.7.2008

    [

    «6] PR inside vom 16.7.2008
  • Fremdbestimmte SPD
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  • Kapitel 13
    Die Verarmung des Staates als strategischer Hebel

    Im Jahr 1973 berichtete mir ein Freund, der kurz zuvor in den Bundestag gewählt worden war, in seinem Wahlkreis sei er massivem Druck wegen der hohen Abzüge an Sozialabgaben und Steuern ausgesetzt. Als Abgeordneter der größeren Regierungspartei würde er deshalb heftig attackiert. Heute würde man sich darüber nicht wundern; deshalb muss ich kurz den Hintergrund erklären:

    Wir hatten beide in der SPD-Steuerreformkommission mitgearbeitet, die unter dem Vorsitz des damaligen Entwicklungshilfeministers, Erhard Eppler, konkrete Vorschläge erarbeitet und diese im November 1971 vorgelegt hatte. Als erstes von vier Zielen war darin vorgegeben:

    »Insgesamt soll die Steuerreform eine bessere Versorgung unserer Bevölkerung mit Leistungen, die nur noch die öffentliche Hand erbringen kann, ermöglichen.«

    Ganz selbstverständlich ging man damals davon aus, dass die Bevölkerung zusätzliche öffentliche Leistungen braucht. Es gab in Deutschland einen riesigen Nachholbedarf bei Bildung, beim Ausbau der Infrastruktur, beim Umweltschutz, bei der Wasserversorgung und beim Städtebau. Die Kommission formulierte mit Bedacht, dass dieser zuallererst in der Regie der von den Bürgern bestellten öffentlichen Hände befriedigt werden könnte. Sie plädierte für eine bessere Versorgung der Bevölkerung mit (diesen) öffentlichen Leistungen.

    Dies sah übrigens nicht nur die Kommission unter Eppler so. Auch eine Kommission unter dem Vorsitz des späteren Bundeskanzlers Helmut Schmidt, linker Umtriebe wahrlich nicht verdächtig, die sogenannte Langzeitkommission, hatte ein Jahr nach dem Beschluss der Steuerreformkommission im Juni 1972 gefordert, der Anteil der öffentlichen Ausgaben am Bruttosozialprodukt solle von damals 29 Prozent auf 34 Prozent im Jahr 1985 angehoben werden. Priorität sollten die Ausgaben für Bildung und Wissenschaft sowie für Verkehr und Städtebau haben. Der Anteil der Ausgaben für Bildung und Wissenschaft sollte von 4,1 Prozent im Jahr 1972 auf 7,6 Prozent des Bruttosozialproduktes 1985 steigen.

    Heute verstehen auch Menschen, die keine Vorurteile gegenüber staatlicher Tätigkeit haben, solche ehrgeizigen Ziele für die Anhebung der öffentlichen Verantwortung nicht. So wirkt sich der Stimmungswandel aus. Was sachlich richtig ist, was notwendig ist, wird durch die Stimmung nicht abgebildet. Hätten wir nur ein bisschen davon realisiert und pragmatisch angegangen, was damals an Vorstellungen über mehr öffentliche Verantwortung entwickelt wurde, dann hätten wir heute weniger Sorgen wegen der Mängel bei Ausbildung und Bildung zum Beispiel und wegen einer abenteuerlich schlechten Integration jener Menschen und ihrer Kinder, die wir selbst als Aussiedler und Gastarbeiter nach Deutschland geholt haben.

    Jene zitierten Personen und politischen Gruppierungen, die vor über 30 Jahren für eine Erweiterung des Angebots von öffentlichen Leistungen warben und entsprechende programmatische Texte entwarfen, waren nicht geprägt von irgendeiner ideologisch begründeten Staatsvergötterung. Auch die Vorstellung, die Vergesellschaftung als solche löse unsere Probleme, spielte allenfalls in kleinen Zirkeln am Rande eine Rolle. Eher rationale Abwägungen standen im Vordergrund: Man wusste, dass manches Gut und manche Dienstleistung sinnvollerweise vom Staat produziert und zur Verfügung gestellt wird, weil das die ökonomischste Art der Produktion ist, wenn Wettbewerb wegen der Unteilbarkeit der Produktionsweisen nicht möglich oder nur mit Krücken konstruierbar ist. Und weil die Leistung in öffentlicher Regie auch noch die fairste ist.

    Der Satz »Nur Reiche können sich einen armen Staat leisten«, der damals in öffentlichen Debatten eingesetzt wurde, gründete nicht auf Staatsvergötterung, sondern auf der nüchternen Einschätzung, dass die große Mehrheit und insbesondere die Schwächeren ohne staatliche Tätigkeit auf ziemlich verlorenem Posten stehen. Nur die etwas Bessergestellten können sich die ergänzende Privatvorsorge zur Altersvorsorge leisten. Die anderen bleiben auf der Strecke; wenn sie älter werden, droht ihnen Altersarmut.

    Arme und Normalverdiener können sich Privatschulen kaum leisten. Und private Krankenkassen auch nicht. Spitzenverdiener wohnen in der Regel nicht an Ausfallstraßen, sondern in den besseren Quartieren und können sich auch sonst Umwelt- und Verkehrsbelastungen leichter entziehen. Die große Mehrheit der Menschen ist darauf angewiesen, dass der Staat, dass wir alle etwas tun, um die Belastungen zu verringern, dass wir insgesamt für mehr Lebensqualität sorgen. Sogar bei Naturkatastrophen wird sichtbar, wie sehr die finanziell Schwächeren auf einen starken Staat und seine Leistungsfähigkeit angewiesen sind. Den Verwüstungen des Hurrikans Katharina und seinen Folgen konnten sich die finanziell gut gestellten Bürgerinnen und Bürger von New Orleans wenigstens entziehen, die finanziell Schwachen konnten das nicht.

    Der inszenierte Meinungswandel gegen den Staat als Dienstleister Zwischen damals und heute liegt eine harte, die öffentliche Meinung prägende Kampagne gegen die öffentliche Hand als Versorger und für die Überantwortung öffentlicher Belange an Private, für Entstaatlichung und gegen die Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben durch den Staat. Die Kampagne begann ungefähr zu der Zeit, als der erwähnte Bundestagsabgeordnete von seinen Erfahrungen im Wahlkreis berichtete. Innerhalb weniger Monate war die positive Stimmung für mehr öffentliche Leistungen und für eine rationale Abwägung zwischen privater Tätigkeit einerseits und öffentlicher Tätigkeit andererseits gekippt worden.73

    Das ist die herrschende Grundstimmung bis heute. »Der starke Staat ist schlank«, lautet die Schlagzeile über einem Namensartikel des FDP-Vorsitzenden Guido Westerwelle in der »Frankfurter Rundschau« vom 8. April 2009.

    Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) hat im Juni 2008 ein sogenanntes »Manifest für Wachstum und Beschäftigung « zur Präsentation für die Bundesregierung formuliert, in dem bis zum Jahr 2020 die Reduktion der Staatsquote von rund 43 auf 35 Prozent verlangt wird. Er tut dies in der Hoffnung, mit einer solchen Forderung bei den meisten der Wirtschaft nahestehenden Personen, bei der Mehrheit der Medienschaffenden und darüber hinaus in einer breiten Öffentlichkeit Zustimmung zu finden. In den Köpfen der Multiplikatoren in unserem Land ist nämlich verankert, dass Deutschland ein Land mit einem weit überdurchschnittlich hohen Staatsanteil sei.

    Das ist aber eine Täuschung: Vom Papier des BDI berichtete die »Financial Times Deutschland« am 23. Juni 2008. Drei Tage später veröffentlichte Eurostat, das Statistische Amt der Europäischen Kommission, Ergebnisse eines Vergleichs zur Abgabenquote in der EU im Jahr 2006.74 Danach lag die gewichtete Gesamtabgabenquote75, das heißt das Aufkommen an Steuern und Sozialabgaben in Prozent des BIP, in Deutschland bei 39,3 Prozent und damit knapp unterhalb der 27 EU-Staaten mit 39,9 Prozent und schon immerhin um 1 Prozent unter jener der Eurozone mit 40,5 Prozent. Die Gesamtbelastung mit Steuern und Sozialabgaben in Deutschland ist nur die neunthöchste in Europa. Die Abgabenquote in Deutschland liegt niedriger als in den skandinavischen Staaten, in Belgien, in Frankreich, in Italien, in den Niederlanden und in Österreich. Dänemarks Abgabenquote liegt fast 10 Punkte über der deutschen, bei 49,1 Prozent, die schwedische bei 48,9.

    Eine solche Faktenlage wie auch die Frage danach, ob es in der heutigen Zeit angesichts der unerledigten öffentlichen Aufgaben sinnvoll ist, pauschal eine niedrigere Abgabenquote zu verlangen, interessiert einen so wichtigen Verband wie den Bundesverband der Deutschen Industrie nicht. Er agitiert weiter nach dem vor über 30 Jahren festgelegten Schema, und er tut dies heute auf der Basis einer staatsfeindlichen Grundstimmung, die in diesen Kreisen Fuß gefasst hat. »Hassfigur Vater Staat« überschreibt sogar das »Handelsblatt« einen Bericht zu einer »Road Show« stramm neoliberaler europäischer »Denkfabriken« und Institute in Berlin unter Führung des Wiener Hayek-Instituts. »Die Marktidee ist in Deutschland aus dem Leben verschwunden«, kann die Generalsekretärin dieses Instituts dort erklären, ohne ausgelacht zu werden. Das ist die radikale, die Realität ausblendende Agitation, auf der dann solche Gewächse wie das Manifest des BDI und seine Forderung nach weiterer Entstaatlichung gedeihen. Zur Entwicklung der Staatsquote zwischen 1960 und 2008 Die folgende Tabelle zeigt, wie sich die sogenannte Staatsquote zwischen 1960 und 2008 verändert hat. Das ist eine amtliche Tabelle des Bundesministeriums der Finanzen. Das Verständnis von Staatsquote weicht ab vom Begriff, der beim zitierten internationalen Vergleich zugrunde gelegt wurde. Das mindert jedoch nicht die Aussagekraft dieser Tabelle, weil es hier auf einen zeitlichen Vergleich in Deutschland ankommt. »Die Regierung definiert die Staatsquote als statistische Größe, in der Ausga ben von Bund, Ländern und Gemeinden sowie der Sozialversicherung in Bezug zum nominalen Bruttoinlandsprodukt (BIP) gesetzt werden.

    « So heißt es in einer Meldung des Deutschen Bundestages vom 4. August 2008. »Eine sinkende Staatsquote zeige an, dass die staatlichen Ausgaben langsamer zugenommen haben als das nominale BIP, eine steigende Quote signalisiere einen vergleichsweise stärkeren Ausgabenzuwachs.«

    Zum Verständnis ist es hilfreich, sich den gesamten Zeitablauf anzuschauen. Zwischen 1960 und 1965, also zu Adenauers und Ludwig Erhards Zeiten, stieg die Staatsquote kräftig an. Zwischen 1970 und 1975 stieg sowohl der Anteil der Gebietskörperschaften als auch der Anteil der Sozialversicherungen. Dahinter stecken die gewollte Ausweitung der öffentlichen Tätigkeit in der sozialliberalen Koalition und die damaligen Reformen – vermutlich aber auch die Stagnation des Bruttoinlandsproduktes, also des Nenners dieser Quote, nach der ersten Ölpreisexplosion von 1973.

    Entwicklung der Staatsquote

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  • Entwicklung der Staatsquote [PDF - 12 KB]

    Mit der konjunkturellen Belebung in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre sinkt dann die Staatsquote wieder. Das geht so weiter in der ersten Phase der Regierung Kohl. Damals war die Rückführung des Staatsanteils erklärte politische Absicht. Mit der deutschen Vereinigung kombiniert mit dem konjunkturellen Niedergang anfangs der neunziger Jahre steigt die Staatsquote 1996 auf ihren Höchstwert von 49,3 Prozent. Seitdem geht es in Schwankungen abwärts bis zu 43,9 Prozent im Jahr 2008.

    Den konjunkturellen Einfl uss kann man auch in diesen letzten zehn Jahren beobachten: Der kleine Boom zwischen 1996 und dem Jahr 2000 ließ den Quotienten Staatsquote sinken; der Abschwung in den darauffolgenden Jahren schlägt sich sofort in einer höheren Staatsquote nieder, die wirtschaftliche Belebung seit 2005 in Kombination mit Steinbrücks Sparversuchen dann in einem Rückgang der Staatsquote.

    Wenn man auf diese Tabelle des Verlaufs des Staatsanteils und des Anteils der Sozialversicherungen im Zeitraum von 47 Jahren auch noch eine Folie mit Daten zum Wohlergehen unseres Volkes legen würde, dann würde man vermutlich schnell begreifen, wie unbedeutend niedrige Staatsquoten waren und sind.

    Zu Beginn der siebziger Jahre begann die Stimmungsmache gegen staatliche Tätigkeit – übrigens interessanterweise parallel, auch zeitlich parallel, zum Putsch in Chile und der dort bewusst und unter Einfl uss der neoliberalen Chicago-Schule betriebenen Verringerung der Rolle des Staates. Es fügt sich, dass beim erwähnten aktuellen Versuch des Hayek-Instituts, die radikal neoliberalen Kräfte zu sammeln, Pinochets früherer Arbeitsminister José Piñera mitmacht.

    Der Einstieg über die hohen Abzüge war ausgesprochen geschickt.

    Dieses Thema erzielt noch heute die gewünschte Wirkung.

    Wer möchte nicht von Steuern und Abgaben entlastet werden?

    Wenn man diese Frage von den öffentlichen Leistungen trennt, dann ist das Ergebnis klar. Der Hinweis auf die hohen 207 Abzüge spaltet zudem die Arbeitnehmerschaft und lähmt die Gewerkschaften.

    Sie sind gezwungen, im Interesse ihrer Mitglieder für die Verringerung der Abzüge einzutreten, und wissen gleichzeitig, dass öffentliche Leistungen gerade für Arbeitnehmer und die Schwächeren unserer Gesellschaft lebenswichtig sind. Dieses Dilemma wird weidlich genutzt, so immer wieder von der »Bild«- Zeitung. Typisch der Kommentar in »Bild« vom 4. März 2008:

    »Steuer-Gier immer größer!
    Jetzt haben wir es erneut schwarz auf weiß: Steuern und Abgaben fressen uns auf! Ob Soli, Öko-, Mehrwert- und bald Abgeltungssteuer – die Gier des Staates wird immer größer. Die Leidtragenden sind vor allem die Millionen Beschäftigten! Denn bei den Löhnen tut sich im Gegenzug nichts. Die mäßigen Steigerungen sind zwar gut für die Bilanzen der Firmen. Aber im Geldbeutel der Arbeitnehmer kommt kein spürbares Plus an – die Inflation frisst alles wieder auf. Unterm Strich sind die Löhne in den letzten zehn Jahren sogar leicht gesunken. Gleichzeitig stiegen die Belastungen durch den Staat weiter an. Im Klartext: Arbeit und Fleiß lohnen sich nicht wirklich. Deshalb wird es höchste Zeit, dass die Politik Abgaben und Steuern senkt. Nur so gibt es wirklich mehr Netto für alle!«

    »Bild« untermauerte diesen Kommentar noch mit einem zweiten Artikel: »Steuern und Abgaben. So raubt der Staat uns aus«.

    Der Kommentator ist sinnigerweise Oliver Santen. Er kam von der Allianz zu »Bild« und betreibt dort Propaganda für die Privatvorsorge und gegen die gesetzliche Rente. Er ist also auch noch aktiv damit beschäftigt, für private Produkte wie Lebensversicherungen à la Riester und Rürup zu werben, die vom Staat hoch subventioniert sind. Dass das Geld dafür auch vom »gierigen« Staat bei den Bürgern kassiert wird, spielt dann natürlich keine Rolle. Denn die dafür notwendige Gier kommt seinen Freunden von der Finanzwirtschaft zugute.

    Sparen zu wollen ist populär, und Schulden hinzunehmen ist unpopulär. Darauf baut eine zweite Linie der Meinungsmache gegen öffentliche Leistungen auf. Sie erscheint uns im täglichen politischen Leben in vielen Variationen. Beliebt ist die Rolle des 208 Sparkommissars. Das ist ein Ehrentitel, den sich ein kluger PRMacher für den früheren Finanzminister Hans Eichel ausgedacht hatte; Peer Steinbrück versucht ihn mit allen Mitteln und ohne Rücksicht auf die konjunkturellen Gegebenheiten und dringlichen Aufgaben des Staates zu erobern. Hier wird eine der Veränderungen sichtbar, die gravierende Auswirkungen auf die Anti-Staats-Kampagne hatten: Sozialdemokraten mauserten sich von Befürwortern einer Erweiterung des öffentlichen Korridors zu Sparkommissaren.

    Selbstverständlich ist jeder anständige Mensch für Sparen und gegen Verschuldung; deshalb lädt dieses Thema profilierungsfreudige Jungpolitiker geradezu ein, sich seiner zu bemächtigen und dabei die Anerkennung wichtiger Meinungsführer in den Medien zu ergattern: Carsten Schneider (SPD), Oswald Metzger (nacheinander SPD, Die Grünen, CDU), Antje Hermenau (Die Grünen) haben sich so profiliert und das Thema in der Diskussion gehalten.

    Wir werden ständig und wiederum in vielen Variationen mit dem Problem zu hoher Staatsschulden konfrontiert. Wir werden vom Bund der Steuerzahler zum Blick auf die »Schuldenuhr« vor dem Büro dieses Bundes in Berlin eingeladen. Diese Vereinigung nennt sich Bund der Steuerzahler, ist aber mehrheitlich ein Bund von Unternehmen und Freiberufl ern. Seine »Schuldenuhr«, die den Zuwachs der öffentlichen Schulden dramatisch und optisch verwertbar anzeigt, wird von Fernsehjournalisten gerne zur Meinungsmache genutzt. So ist es gedacht und so funktioniert es.

    Die Bertelsmann Stiftung, die nicht fehlen darf, wenn es darum geht, Stimmung für Entstaatlichung zu machen, unterhielt uns Ende Juni 2008 mit einem Kommunalen Finanz- und Schuldenreport 2008 über die finanzielle Lage der Kommunen in Deutschland. In einem Bericht von »SpiegelOnline«, über den »Spiegel« zu 25 Prozent im Eigentum einer Bertelsmann-Tochter, hieß es zum Einstieg schön stimmungsmachend: »Kommunen rechnen ihre Schulden schön«. Sie sind »viel stärker verschuldet als angenommen«. Lobend hieß es: »Manche Städte und Gemeinden hätten sich allerdings durch den Verkauf von kommunalem 209 Eigentum – wie beispielsweise Dresden durch die Privatisierung einer Wohnungsgesellschaft – weitgehend entschuldet.« Das zeigt die Stoßrichtung, die Forderung nach weniger Staat.

    Bei der stimmungmachenden Staatsschuldendebatte wird unverblümt ein Trick der Meinungsmache angewandt: die Ausblendung.

    Von der hohen Zunahme der Verschuldung durch die schlecht gemachte deutsche Vereinigung und die dabei begangenen teuren Untaten und Fehler spricht man nicht, obwohl es im Schnitt der neunziger Jahre jährlich Spitzenwerte von rund 80 Milliarden Euro waren. Hier gibt es offensichtlich eine Absprache unter den Meinungsmachern in Politik und Medien. Es wird weder über die miserable Leistungsbilanz der Treuhand noch über das Verscherbeln der ostdeutschen Banken an die westdeutschen gesprochen. Das Schweigen über wichtige Vorgänge ist ein besonderes Mittel der Meinungsmache. Und das Schweigen über die Rolle der so schlecht gemachten Vereinigung der beiden Teile Deutschlands ist eines der herausragenden Beispiele dafür.

    Zur Palette der Meinungsmache im Interesse der Reduzierung der Staatstätigkeit gehört weiter

    • der wiederkehrende Vorwurf staatlicher Bürokratie,
    • die Behauptung, die Manager in der Wirtschaft seien kompetent und die Politiker seien inkompetent, und
    • der Vorwurf der Verschwendung.

    Es gibt Bürokratie, es gibt Verschwendung, es gibt inkompetente Politiker und inkompetente Verwaltungsbeamte. Aber zum einen trifft man auf diese Schwächen im privaten Sektor auch. Auch dort gibt es Bürokratien, auch dort gibt es Korruption, wie der Fall Siemens ausgiebig belegt, auch dort gibt es Inkompetenz.

    Was auf den Finanzmärkten zwischen 2001 und 2008 geschah, war entweder kriminell oder inkompetent oder beides.

    Zudem wäre immer zuerst noch die Frage zu stellen, was man tun kann, um Bürokratisierung, Bequemlichkeit und Unbeweglichkeit bei der Bereitstellung öffentlicher Güter und Dienstleistungen abzumildern und letztlich loszuwerden. Dass dies praktisch geht, sehen wir hierzulande mittlerweile in vielen Städten und Gemeinden, in Rathäusern und in Kreisverwaltungen, in 210 Landesverwaltungen und bei öffentlichen Unternehmen. Es gibt in Deutschland inzwischen gut organisierte Verwaltungen, es gibt effizient arbeitende öffentliche Verkehrsbetriebe und Stadtwerke.

    Und dann sollte man bei einer Bewertung noch beachten, dass wir es inzwischen mit neuen Bürokratien zu tun haben, die aus der Privatisierung wichtiger öffentlicher Einrichtungen und Unternehmen folgen. Weil die Privatisierung der Energiewirtschaft und der Telekommunikation, der Eisenbahn und des Fernsehens beziehungsweise des Hörfunks angesichts der sogenannten Unteilbarkeiten77 zu neuen privaten Monopolen und Oligopolen führen, sieht man sich gezwungen, sogenannte Regulierungsbehörden und – im Falle des Rundfunks – Medienkontrolleure zu installieren. Damit sind nolens volens neue Bürokratien entstanden.

    Ihre Entscheidungen sind nahezu willkürlicher Natur, und die betreibenden privaten Unternehmen bringen obendrein den Nachteil, dass sie nicht mehr öffentlich und schon gar nicht parlamentarisch verantwortet und kontrolliert sind.

    Einige der von der öffentlichen Hand entlassenen und privatisierten Unternehmen haben dann übrigens erst in dieser neueren befreiten Situation ihr Talent zur Verschwendung und zu abenteuerlichem Investitionsverhalten entdeckt. Die privatisierte Deutsche Telekom AG hat genauso wie die aus der direkten Kontrolle des Staates entlassene Deutsche Bahn AG die Verschwendung von finanziellen Mitteln auf den globalen Märkten für Beteiligungen richtig ausgekostet – der Spieltrieb der befreiten Manager vom Typ Ron Sommer und Hartmut Mehdorn konnte sich erst in dieser privatisierten beziehungsweise de facto privatisierten Konstellation richtig austoben.

    Fazit: Offensichtlich muss beim Urteil über die Frage öffentlich oder privat die Scheidelinie nicht zwischen der privaten Organisation einerseits und der öffentlichen Organisation einer Dienstleistung andererseits verlaufen. Unsinn ist bei beiden Formen des Eigentums möglich.

    Die notwendige Debatte und Beratung dieser Probleme ist heute angesichts der Vorherrschaft der Entstaatlichungs- und 211 Privatisierungsparolen kaum möglich. Die rationale sachliche Debatte wird überlagert durch die Vorherrschaft einer einseitigen Meinungsmache.

    Die Propaganda gegen die staatliche Tätigkeit und gegen öffentliche Leistungen wäre nicht annähernd so wirkungsvoll wie heute, wenn sie nicht unterfüttert und gestützt würde von politischen Entscheidungen, mit denen die Leistungsfähigkeit der öffentlichen Einrichtungen gefährdet und verschlechtert wird – das ist hier ähnlich wie bei der Zerstörung des Vertrauens in die gesetzliche Rente. Die Basis für die Meinungsmache wird politisch geschaffen: Man senkt die Steuern wie zum Beispiel mit der großen Unternehmenssteuerreform durch Rot-Grün und mit einem ansehnlichen Blumenstrauß von Steuersenkungen und -streichungen in Kohls Regierungszeit. Die Streichung der Vermögenssteuer und der Gewerbekapitalsteuer geht auf Kohl zurück; Letzteres hat die Kommunen viel Geld gekostet. Gewinner der vielen Steuersenkungsoperationen waren Unternehmen und vor allem große Kapitalgesellschaften, die z.B. ihre Aktienpakete verkaufen können, ohne den dabei realisierten Gewinn zu versteuern.

    Die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger war nicht unter den Gewinnern. Sie sehen aber die mangelhafte Leistung einer unterfinanzierten öffentlichen Hand und klagen darüber. Das ist das, was sie lernen sollen.

    Jetzt ist ein neues Instrument zur Begrenzung der Leistungsfähigkeit des Staates eingeführt worden. Die Politiker der großen Koalition haben sich die Idee einreden lassen, eine »Schuldenbremse « in die Föderalismusreform aufzunehmen und diese sogar im Grundgesetz zu verankern. Sie soll Bund, Länder und Gemeinden dazu zwingen, über einen Konjunkturzyklus hinweg die Haushalte ausgeglichen zu halten. Dieses Instrument ist schon makroökonomisch nicht zu verstehen, weil es eine prozyklische Politik stärkt, also die Konjunkturausschläge insbesondere nach unten zu verschärfen droht. Es wird dazu führen, dass die öffentlichen Hände dann am schlechtesten ausgestattet sind, wenn sie die Finanzmittel für öffentliche Leistungen am dringendsten brauchen würden.78 Außerdem wird dieses Instrument dazu führen, dass der Staat – und das sind wir alle – nicht mehr ausreichend fähig sein wird, neuen Bedarf an öffentlichen Leistungen, falls es diesen gibt, ohne sehr große Schwierigkeiten zu decken.

    Hätte es eine solche Schuldenbremse Ende der 1960er Jahre gegeben, wir hätten den völlig vernachlässigten Schutz von Umwelt und Gewässern wie auch den vernachlässigten Hochschulbau nicht finanzieren können. Die Schuldenbremse ist ein gutes Beispiel für eine politische Entscheidung, die vornehmlich durch Meinungsmache in die öffentliche Debatte und in den Entscheidungsprozess eingeführt wurde. Und wenn sie einmal eingeführt ist, dann wird sie immer wieder das Thema Sparen und Schulden am Kochen halten.

    Die Verarmung des Staates kostet uns sehr viel:

    Wir investieren nicht mehr ausreichend für die Zukunft

    Die »Frankfurter Rundschau« veröffentlichte am 10. Mai 2008 ein Interview mit dem Mitglied des Sachverständigenrates Peter Bofinger. Weil die Steuerschätzer – übrigens in gravierender Fehleinschätzung der krisenhaften Entwicklung – bis zum Jahre 2012 mit Mehreinnahmen für die öffentliche Hand in Höhe von 100 Milliarden Euro rechneten, folgte ein Vorschlag dem andern, die Steuern zu senken. Der Bundesfinanzminister dagegen wollte lieber Schulden abbauen. Peter Bofinger wies auf die Selbstverständlichkeit hin, das Geld für Bildung und die Infrastruktur auszugeben.

    Und er nannte es typisch, dass nur die anderen Optionen zur Debatte gestellt werden: Steuern senken oder Schulden abbauen. Aus seiner Sicht hat der »öffentliche Diskurs eine gefährliche Unwucht«. Das ist angesichts der nunmehr jahrzehntelangen aggressiven Diskussion gegen den Staat als Fiskus und daraus folgend als Leistungsträger kein Wunder.

    Unsere Infrastruktur wird schlechter. Kanalisationen verlottern, für Bildung und Ausbildung ist nicht ausreichend Geld da.

    Deutschland gibt für Bildung heute anteilsmäßig weniger aus als noch Mitte der neunziger Jahre. Damals standen 6,9 % des Bruttoinlandsproduktes für Bildung zur Verfügung, 2006 nur noch 6,2 %, so steht es im zweiten nationalen Bildungsbericht, der im Juni 2008 bekannt wurde. Mit 6,2 % liegt Deutschland unterhalb des Durchschnitts der OECD-Länder, also der vergleichbaren Industriestaaten auf der Welt. In den Medien wird über die Misere berichtet, zum Beispiel in der »Berliner Zeitung« am 13. Juni 2008: »Noch immer verlassen fast 8 Prozent eines Altersjahrgangs die Schule ohne Abschluss. 40 Prozent der ehemaligen Hauptschüler haben nach zwei Jahren noch keine Berufsausbildung begonnen. Der Zentralverband des Handwerks hält jeden vierten Jugendlichen für nicht ausbildungsfähig. Es studieren noch immer zu wenig junge Menschen; die Weiterbildung stagniert, die Benachteiligung von Migrantenkindern bleibt bestehen.

    Abhilfe ist kaum in Sicht. Laut Bildungsbericht wird der Nachwuchs an Lehrern und Erziehern immer knapper.« »Im Kern verrottet« überschreibt der »Spiegel« einen Bericht über den baulichen und sonstigen Zustand unserer Hochschulen.79

    Wir wissen, was zu tun wäre, und es gibt sogar über alle Parteien hinweg einen erstaunlichen Konsens darüber, dass wir mehr in die Zukunft investieren müssen. Die Sonntagsreden unserer Politikerinnen und Politiker sind voll von sorgenvollen Analysen und von schönen Sprüchen: Bildung für alle, Wissensgesellschaft, Wissen als Rohstoff der Zukunft, Megathema Bildung (Herzog), Bildung sei die soziale Frage des 21. Jahrhunderts, deklamierte ein CDU-Parteitag schon vor über zehn Jahren. In der gleichen Zeit wurden die Kassen des Staates genau auch für dieses Aufgabenfeld immer ärmer ausgestattet.

    Was zu tun wäre, wissen wir: Wir brauchten mehr Ganztagsschulen und eine bessere Vorschulerziehung; die Lehrer-Schüler-Relation müsste verbessert, unsere Schulen und Universitäten saniert und modernisiert werden. Unsere Universitäten sind überlastet.

    In Seminarräumen für 50 werden 300 Studenten untergebracht.

    Die Studienbedingungen werden mit Recht als schlecht bis katastrophal empfunden. Wir wissen, wo wir investieren müssten.

    Die Ganztagsbetreuung in unseren Schulen wird zum Teil von 214 dafür nicht ausgebildeten Personen übernommen, auch damit man niedrigere Löhne zahlen kann. Also brauchen wir mehr Geld für Personal.

    Wir wissen, dass Kinder und Jugendliche aus einkommensschwächeren Schichten in unserem Bildungssystem immer noch Schwierigkeiten haben weiterzukommen. Wir wissen, dass unsere Hochschulen wegen der mangelhaften öffentlichen Hilfe tendenziell immer mehr von den Kindern der Bessergestellten, von Akademikerkindern besucht werden und die Kinder der finanziell Schlechtergestellten benachteiligt sind. Diese Vernachlässigung der Begabungsreserven ist unfair und gesellschaftspolitisch genauso dumm wie in den 1950er und 1960er Jahren, als dies »Bildungsnotstand« genannt wurde. Wir wissen, dass das dicke Ende dieser Fehlentwicklung noch auf unsere Gesellschaft zukommt. Wir wissen, dass diese Konsequenz der Verarmung des Staates die eigentliche Benachteiligung der jungen Generation ausmacht. Wir wissen das, aber es geschieht nichts Entscheidendes.

    Das gilt auch für benachbarte Bereiche unseres gesellschaftlichen Lebens: Wir wissen, dass wir mehr tun müssten für unsere Jugend – für Jugendzentren, für seelische Betreuung, für Jugendarbeit insgesamt. Und dennoch wird bei der Jugendhilfe immer noch gestrichen und sogar zusammengestrichen, statt neu zu investieren.

    Wir wissen, dass wir Integrationsprobleme haben. Wir brauchten mehr Sprachunterricht für Kinder von Aussiedlern und Ausländern.

    Aber die Mittel sind schon zu Kohls Zeiten gekürzt worden, obwohl gerade die Regierung Kohl besonders viele Aussiedler ins Land geholt hat.

    Die Verarmung des Staates werden künftige Generationen zu spüren bekommen. Und zwar sehr viel mehr, als die im Jahr 2008 von einigen Wor

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