Mittwoch, 24. November 2010

#Portugal vor heftigsten #Sozialkürzungen der Geschichte. #Betroffene wehren sich mit #Generalstreik. [junge welt]


Nicht brav stillhalten

Portugal vor heftigsten Sozialkürzungen der Geschichte.

Betroffene wehren sich mit Generalstreik.

Doch die Teilnahme daran können sich nicht alle leisten

Von Martin Lejeune, Lissabon
(Junge Welt)

Glaubt man den Zahlen, die Fernando Teixeira dos Santos, seit 2005 portugiesischer Finanzminister in der Minderheitsregierung von José Sócrates (beide Sozialistische Partei), zur Rechtfertigung seines brutalen Sparkurses diese Woche der Öffentlichkeit präsentierte, dann steht Portugal ein schwarzes Jahr 2011 bevor. Beim privaten Konsum erwartet Santos einen realen Rückgang um 0,5 Prozent und beim öffentlichen Konsum ein Minus von 8,8 Prozent. Die Investitionen schrumpfen um 2,7 Prozent, die Inlandsnachfrage geht um 2,5 Prozent zurück.

Unter dem Strich soll dabei noch ein »Wachstum« der Wirtschaftsleistung von 0,2 Prozent stehen. Um trotz dieser pessimistischen Prognosen das Haushaltsdefizit von 7,3 Prozent im Jahr 2010 auf 4,6 Prozent im Jahr 2011 zu reduzieren, streicht die Regierung den Etat drastisch zusammen. Dies soll noch in dieser Woche im Parlament beschlossen werden.

Verschärft wird die Situation durch eine weitere Welle der Spekulationen an den globalen Finanzmärkten. Maßgebliche Anleger wollen offenbar erzwingen, daß auch Portugal unter den »Schutzschirm« von EU und Internationalem Währungsfonds flüchtet, wie zu Wochenbeginn die Irische Republik. Sollte dies geschehen, dürften die sozialen Einschnitte im portugiesischen Etat noch drastischer ausfallen.

Organisierter Widerstand

Die von Lohnkürzungen, eingefrorenen Pensionen, gekürzten Sozialleistungen und einer auf 23 Prozent angehobenen Mehrwertsteuer betroffene Bevölkerung wehrt sich und geht am heutigen Mittwoch auf die Straße.

Die gewerkschaftlichen Dachverbände Confederação Geral dos Trabalhadores Portugueses intersindical nacional (CGTP-IN, steht der sozialistischen Regierungspartei nahe), União Geral de Trabalhadores (der sozialdemokratischen Opposition zuzuordnen), sowie der Bloco de Esquerda (Linksblock) und die Partido Comunista Português (PCP) haben zum Generalstreik aufgerufen. In Lissabon sollen zudem »Sabotagen des öffentlichen Lebens« stattfinden, auf Flugblättern angekündigt von der anarchosyndikalistischen Associação Internacional des Trabalhadoros – Secção Portuguesa – Núcleo de Lisboa (Internationale Arbeitervereinigung, Sektion Portugal, Ortsgruppe Lissabon).

»Wir wollen der Regierung zeigen, daß sie diese sozialen Grausamkeiten nicht ohne unseren Protest wird durchgesetzen können«, sagte Francisco Lopes, Präsidentschaftskandidat der PCP, gegenüber jW.

Das Leben ist jetzt schon hart. Manche Preise sind für die Bevölkerung des Niedriglohnlandes Portugal kaum zu bezahlen. Ein Brötchen kostet 30 Cent, ein Liter Milch 80 Cent und unter 2,50 Euro pro hundert Gramm bekommt man kein Stück Käse im Supermarkt. Jetzt soll die Lebensmittelsteuer auch noch von fünf auf sechs Prozent erhöht werden.

Zwei Jobs – kaum Geld

»Wie soll ich in Zukunft mit meinem geringen Einkommen überleben«, fragt Sonia Alexandra. Sie lebt in dem Lissaboner Vorort Odivelas, wo die Mieten niedrig und die soziale Lage angespannt ist. Odivelas will sein schlechtes Image gerade mit dem Werbespruch »Terra de Oportunidades« (Erde der Möglichkeiten) aufpolieren, doch das ist eine Lüge. Zutreffender wäre es zu sagen, hier hausen die Verdammten dieser Erde.

Sonia hat zwei Jobs und muß dafür ins Zentrum von Lissabon – ein Arbeitsweg von einer Stunde. Da Benzin für sie teuer geworden ist, nimmt sie morgens die Fahrt in der überfüllten Metro in Kauf. Die kostet 1,15 Euro. Dann muß sie in den Bus umsteigen – Kostenpunkt weitere 1,10 Euro.

Sonia Alexandra arbeitet in einem Callcenter von Vodafone Portugal und in einem des Elektrizitätskonzerns Energias de Portugal (EDP). Doch ist sie bei beiden Firmen nicht direkt angestellt, sondern bei einer Leiharbeitsfirma, da sowohl Vodafone als auch EDP ihre Callcenter ausgelagert haben. Sie will zunächst nicht sagen, was sie verdient, weil sie sich dafür schämt. Schließlich gesteht sie: »2,60 Euro die Stunde. Und davon muß ich noch elf Prozent Einkommenssteuer zahlen.« Für beide Callcenter arbeitet sie je fünf Mal die Woche für fünf Stunden am Tag.

Das macht 50 Stunden die Woche. »Weil ich davon aber nicht leben kann, arbeite ich noch mal jedes zweite Wochenende durch, Samstag bis zwei Uhr nachts und am Sonntag dann wieder ab acht Uhr morgens. Das geht nur, weil meine Tochter dann bei meinem Exmann ist. Mit den Wochenendzuschlägen komme ich mit Ach und Krach auf 600 Euro im Monat.« Hinzu komme, daß die Arbeit seelisch anstrengend ist.

Im Center von Vodafone Portugal beschweren sich die Kunden, daß sie ab sofort jeden Monat 50 Cent Strafe zahlen müssen, wenn sie ihre Prepaid-Karte nicht aufladen. »Ihren Frust lassen die Leute an uns aus.« Streiken wird Sonia am Mittwoch nicht: »Das kann ich mir nicht leisten. Ich brauche für mich und meine Tochter jeden Euro.«

Dafür, daß Menschen wie Sonia überhaupt erst einmal in die Lage kommen, sich die Teilnahme an einem Streik leisten zu können, setzt sich die Graswurzelbewegung Precári@s Inflexíveis (PI), zu deutsch »unbeugsame Schwierige«, ein. PI kämpft mit Flugblättern, Flashmobs und Aktionen des zivilen Ungehorsams für die Verbesserung der Lage der prekären Beschäftigten, die in Portugal in keiner Statistik vorkommen, obwohl sie immer mehr werden. »Die portugiesische Regierung versteckt diese Welt, zu der Tagelöhner genauso gehören wie Prostituierte«, erläutert PI-Aktivist Gillot Tiago gegenüber jW.

»Wir leben von temporären Jobs. Wir können kaum unsere Miete bezahlen, wir haben keinen Urlaub. Wir können uns weder eine Schwangerschaft noch Urlaub leisten. Wir haben nur Flexibilität, unsere Arbeitgeber dafür die Sicherheit, daß wir billig sind.«

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