Samstag, 16. Oktober 2010

#Unterschicht in die #Mitte #gerückt - #Dank dir, #Hartz IV! [taz]


Unterschicht in die Mitte gerückt

 

Dank dir, Hartz IV!

(taz)

http://taz.de/1/politik/deutschland/artikel/1/dank-dir-hartz-iv/

Seit Hartz IV kann jeder Unterschicht werden.

Das "Regelbedarf-Ermittlungsgesetz" wird so auch für die Mittelschicht und die Medien interessant.

VON SEBASTIAN HEISER


Wenn die Bundesregierung am Mittwoch beschließt, wie viel Geld ein Hartz-IV-Empfänger bekommt, werden sich alle dafür interessieren. Sozialverbände werden sich zu Wort melden, in der "Tagesschau" beklagt sich die Opposition über die niedrigen Regelsätze, die taz bringt eine Schwerpunktseite. Hartz IV bewegt eben die Gemüter. Hartz IV ist relevant.

Früher war das anders. Bevor SPD und Grüne die Agenda 2010 durchsetzten, gab es kein Hartz IV. Stattdessen gab es zwei grundsätzlich verschiedene Systeme für Leute, die längere Zeit ohne Arbeit waren. An der Frage, zu welchem dieser Systeme man gehörte, entschied sich der soziale Status und vor allem der monatliche Geldeingang.

Wer auf der Sonnenseite der Arbeitslosigkeit gelandet war, bekam Arbeitslosenhilfe. Die Arbeitslosenhilfe gab es lebenslang, und sie betrug 53 Prozent des letzten Nettolohns. Mit Kind sogar 57 Prozent. Wer einmal gut verdient hatte, brauchte sich also keine Sorgen mehr zu machen. Natürlich gab es Einschränkungen, man konnte seinen Lebensstandard nicht halten, aber sich zumindest eine Stufe drunter ganz komfortabel einrichten. Viele Aussteiger nahmen das Geld und reisten um die Welt, entdeckten ihr künstlerisches Talent oder schrieben ein Buch.

Und dann gab es da noch die Sozialhilfe. Sozialhilfe, das waren die anderen. Die, die ihr gesamtes Leben lang noch nie eine Arbeit hatten. Jedenfalls keine geregelte, so richtig mit Lohnsteuerkarte und Sozialversicherungsbeiträgen.

Die Öffentlichkeit interessierte sich nicht für die. Ab und zu erschien mal eine Reportage aus dem Sozialhilfemilieu. Darin ging es um Leute, die nicht genug Geld für die Schulhefte ihrer Kinder hatten, die sich über eine angeblich falsche Berechnung ihres Geldes durch die Sozialämter beklagten und die für eine Mark pro Stunde arbeiten mussten. Das las sich ein bisschen wie aus einem fernen Land. Etwa Bhutan oder Tasmanien. Das Ansehen von Journalisten, die Sozialreportagen schrieben, war in vielen Redaktionen ungefähr so hoch wie das der Leute, die die Tabellen mit dem Fernsehprogramm zusammenstellten.

Das hat sich ganz grundlegend geändert. Die Nöte und Sorgen, die Verhältnisse und Ungerechtigkeiten, die Zwänge und Schicksale der Unterschicht werden inzwischen sehr ausführlich von den Medien beleuchtet. Ein Bereich, der früher viel zu wenig betrachtet wurde, erfährt inzwischen die ihm gebührende Aufmerksamkeit.

Wir Journalisten würden uns das Verdienst für diesen Wandel ganz gerne selbst anrechnen. Doch der Dank gebührt Hartz IV. Erst Hartz IV hat dafür gesorgt, dass die Unterschicht nicht länger ignoriert wird. Denn durch Hartz IV ist die Unterschicht in die Mitte der Gesellschaft gerückt.

Egal, wie lange man gearbeitet hat: Jüngere bekommen jetzt nur noch maximal ein Jahr lang Arbeitslosengeld, Ältere maximal zwei Jahre. Danach kommt Hartz IV, und zwar für alle. Das bedeutet den Umzug in eine kleinere Wohnung mit "angemessener" Miete. Und 359 Euro für den Lebensunterhalt.

Hartz IV kann jetzt alle treffen - und nicht mehr nur die anderen. Wer nicht selbst betroffen ist, der merkt doch zumindest, wie im Freundeskreis die Einschläge immer näher kommen. Das hat der dahinkümmernden Bewegung für mehr soziale Rechte zu neuer Stärke verholfen. Und das manifestiert sich längst nicht nur in neuen Sozialdemonstrationen und in der Linkspartei. Es führt vor allem dazu, dass Soziales inzwischen zu den gesellschaftlichen und medialen Großthemen gehört. Die Unterschicht ist inzwischen relevant. Ähnlich wie der Klimawandel - der gilt seit ein paar Jahren auch als relevant, obwohl es die Probleme da ja ebenfalls schon etwas länger gibt.

Doch die Unterschicht kann sich jetzt nicht nur endlich der ihr gebührenden Aufmerksamkeit sicher sein. Es zahlt sich auch aus, dass sie nun überall als relevant gilt. Etwa beim Bundesverfassungsgericht. Jahrzehntelang hatte man in Karlsruhe keinerlei Einwände gegen die Sozialhilfesätze. Als das Ding plötzlich einen neuen Namen hatte und anfing, die Mittelschicht zu bedrohen, monierten die Richter die fehlerhafte Berechnung. Die Regierung muss jetzt etwas drauflegen.

Zwar soll es nach dem Willen der schwarz-gelben Koalition nur fünf Euro mehr geben. Doch die Sozialbewegung hat inzwischen auch die Sozialdemokraten erfasst. Die gleiche SPD, die damals die ursprünglichen Hartz-IV-Sätze beschlossen hatte, ist jetzt der Ansicht, dass die Erhöhung dieser Sätze um fünf Euro viel zu gering ist. Und weil die schwarz-gelbe Koalition im Bundesrat keine Mehrheit hat, wird man sich am Ende wahrscheinlich auf eine etwas großzügigere Anhebung einigen. Und wieder werden alle darüber berichten.

Früher hätte es das nicht gegeben.


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