Sonntag, 24. Oktober 2010

#Einwanderer #als #Ware - Wie die #Marktlogik #Migranten #aussortiert [via Blaetter.de]


Einwanderer als Ware

Wie die Marktlogik Migranten aussortiert

http://www.blaetter.de/archiv/jahrgaenge/2010/oktober/einwanderer-als-ware
 

von Oliver Schmidtke

Die Debatte um das aktuelle Buch von Thilo Sarrazin, die die deutsche Medienlandschaft seit Wochen in Atem hält, lässt den Beobachter perplex zurück.[1]

Dies gilt weniger für die kruden, mit rassistischen Untertönen durchsetzen Thesen selbst, als vielmehr für die beträchtliche Resonanz, auf die sie gestoßen sind. Sind es tatsächlich nur die polarisierenden Ressentiments, die Sarrazin die Aufmerksamkeit der so heftig umworbenen Öffentlichkeit zu sichern vermögen? Ist er, wie FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher ihn beschrieb, "nur" der "Ghostwriter einer verängstigten Gesellschaft"? Artikuliert er also schlicht die dumpfen Aversionen gegenüber muslimischen Einwanderern, von denen sich das weltoffene und tolerante politische Establishment nunmehr entschieden distanziert?

So sehr eine solche Interpretation teilweise berechtigt erscheint, so wenig vermag sie doch zu erklären, woher die Popularität seines migrationskritischen Standpunkts auch in vermeintlich aufgeklärten Kreisen rührt. Welchen Nerv hat Sarrazin dort getroffen?

Die Suche nach einer Erklärung für diesen Sachverhalt führt genau in den Mainstream der aktuellen Einwanderungsdebatte, aus dem sich Sarrazin mit seinen kruden biologistischen Hypothesen unwiderruflich entfernt zu haben scheint. Diese gleichermaßen dominante wie (vermeintlich) progressive Interpretation beurteilt Immigranten fast ausschließlich unter dem Gesichtspunkt des volkswirtschaftlichen Nutzenkalküls.

Wenn aber staatlich gesteuerte Einwanderung allein durch marktkonforme Nutzenabwägung legitimiert wird, ist stets die Möglichkeit des Ausschlusses derer mitgedacht, die unter dieser utilitaristischen Logik als untauglich erscheinen. In einer Weltsicht, in der Migranten vorrangig als Ware auf dem globalisierten Arbeitsmarkt wahrgenommen werden, ist die Aversion gegenüber den vermeintlich "Unproduktiven" somit immer schon angelegt.

Diese These, dass eine ökonomisch legitimierte Migrationspolitik selbst zur Grundlage sozialer Exklusion und populistischen Ressentiments gegen Einwanderer und Minderheiten werden kann, erscheint auf den ersten Blick widersinnig. Hat nicht der Bezug auf die gefährdete internationale Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands entscheidend dazu beigetragen, eine breite Akzeptanz für zaghafte erste Schritte hin zu einer modernen, an klassischen Einwanderungsgesellschaften orientierten Immigrationsgesetzgebung zu schaffen?

Tatsächlich lautet das zentrale Argument, mit dem für eine liberale Einwanderungspolitik geworben wird, dass europäische Gesellschaften aufgrund dringender demographischer und sozialökonomischer Herausforderungen die geregelte Zuwanderung bräuchten. Die ideologischen Fronten in der bundesdeutschen Einwanderungsdebatte scheinen insofern quer zu der formulierten Hypothese zu verlaufen. Stark vereinfacht: Hier die – von den Grünen bis zu Daimler-Benz reichenden – Befürworter einer liberalen Einwanderungspolitik, die die Notwendigkeit staatlich gesteuerter Zuwanderung mit dem wirtschaftlichen Nutzen begründen; dort diejenigen, die eine Ausweitung der Zuwanderung als genuine Bedrohung für das Gemeinwesen durch ein Übermaß an ethnisch-kultureller Differenz betrachten. Somit scheint die öffentliche Diskussion um Einwanderung vor allem geprägt durch die Spannung zwischen rationalem ökonomischem Denken und einer von Angst getriebenen nationalistischen Schließung.

In der bundesrepublikanischen Debatte wirkte die volkswirtschaftliche Kosten-Nutzen-Rechnung in der Tat einerseits wie eine Befreiung von nationalistischem Denken und tief verwurzelten Vorbehalten gegenüber Zugewanderten. Andererseits ist in einer solch ökonomisch begründeten Migrationspolitik stets das Potential des sozialen Ausschlusses angelegt. Dies belegt der Blick auf eine klassische Einwanderungsgesellschaft wie Kanada. Er ist nicht nur deshalb aufschlussreich, weil dieses Land als Paradebeispiel für ein modernes und weltoffenes Einwanderungsregime gilt.

Auch gab es bei der Auswahl und Integration von Einwanderern größere Ähnlichkeiten mit europäischen Gesellschaften, als dies bei einer klassischen Einwanderungsnation zu erwarten wäre: Bis in die 1960er Jahre hinein war die Migrationspolitik dieses Landes von der Idee des nation building geprägt, das heißt von der Schaffung und dem Schutz einer nationalen Gemeinschaft und ihrer ethnisch-kulturellen Identität. Mit der Einwanderungspolitik sollte die (post-)koloniale Identität Kanadas als white settler society gestärkt werden. Einwanderer wurden fast ausschließlich aus Europa, wenn möglich aus Großbritannien oder Frankreich, angeworben. Die zum Teil offen rassistisch begründete Exklusion nicht-europäischer Immigranten ist so auch Teil des Vermächtnisses jener Einwanderungspolitik, die Kanada bis nach dem Zweiten Weltkrieg betrieb.[2]

Mitte der 60er Jahre jedoch verabschiedete sich Kanada von der Tradition, Migrationspolitik als Vehikel für nationale Identitätsstiftung zu nutzen. Die Auswahl und Integration von Migranten wurde radikal neu an pragmatischen, volkswirtschaftlich begründeten Kriterien ausgerichtet. Mit dem 1967 eingeführten Punktesystem ersetzten individuelle Qualifikation und Eignung (festgemacht etwa an Ausbildung, Sprachkompetenz, Arbeitserfahrung, Anpassungsfähigkeit und Alter) die der Herkunft der Bewerber bei der Auswahl der economic immigrants.

Diese Regelung ist seitdem zum unumstrittenen Grundprinzip kanadischer Politik geworden. Weitgehend unabhängig von der Parteizugehörigkeit haben liberale und konservative Regierungen in den letzten Jahrzehnten die Bedeutung unterstrichen, die der Immigration für die Entwicklung aller Bereiche der kanadischen Gesellschaft zukommt. Sowohl um den ökonomischen und demographischen Herausforderungen gerecht zu werden (Alterung der Gesellschaft, Knappheit spezialisierter Arbeitskräfte etc.) als auch mit Blick auf die grundsätzlichen politischen und humanitären Werte der kanadischen Gesellschaft sei Einwanderung auf fortgesetzt hohem Niveau unverzichtbar.

Die Modernisierung des kanadischen Einwanderungsgesetzes fand jedoch nicht zufällig zu einem Zeitpunkt statt, als das Verhältnis von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft neu gestaltet und relativ großes Vertrauen in die regulierende Kraft staatlicher Planung gesetzt wurde. Die Grundzüge der heutigen Migrationspolitik waren mit den wohlfahrtsstaatlich unterfütterten Sozialreformen dieser Ära stark verbunden.

So wurde auch die am volkswirtschaftlichen Nutzenkalkül ausgerichtete Rekrutierung von Einwanderern durch eine Integrationspolitik ergänzt, die sich am Maßstab einer toleranten und fairen Eingliederung der Neuankömmlinge in die kanadische Gesellschaft orientiert. Die für die Einwanderungspolitik ausschlaggebende Ausrichtung an sozioökonomischen Imperativen wurde so an das Gebot der Chancengleichheit gekoppelt. Der die politische Kultur des Landes stark prägende Multikulturalismus ist im Kern, neben der öffentlichen Anerkennung kultureller Differenz, eben auch eine gesetzlich verbriefte Verpflichtung auf gleichberechtigte Teilhabe an den Lebenschancen der kanadischen Gesellschaft.

"Selling diversity" – neoliberale Reform im kanadischen Migrationsregime

Seit den 90er Jahren haben sich die Prioritäten und die konkrete Ausgestaltung in der Einwanderungs- und Integrationspolitik des Landes jedoch merklich verschoben. Fortgesetzt hohe Einwanderungsraten wurden zunehmend durch eine an den Globalisierungsdiskurs angelehnte Argumentation legitimiert: Kanadas wirtschaftliche Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit sei vom Zuzug gut ausgebildeter Migranten aus aller Welt abhängig; der Multikulturalismus sei daher zuallererst ein Standortvorteil. Mit dieser Diskursverschiebung wurden die programmatischen Schwerpunkte des kanadischen Multikulturalismus verrückt: weg von der gleichberechtigten und differenzsensiblen Eingliederung von Einwanderern und Minderheiten, hin zu einer kapitalkonformen Antwort auf den Wettstreit der globalisierten Märkte.[3]

Diese graduelle, doch bedeutsame Akzentverschiebung im offiziellen Diskurs hat die materielle Praxis von Einwanderung und Integration nachhaltig verändert. Unter neoliberalen Vorgaben wurden die Rekrutierung und Eingliederung von Migranten immer stärker an eine marktgesteuerte Logik gebunden. Auf diese Weise verschob sich das Verhältnis zwischen den nach dem Punktesystem angeworbenen sogenannten economic migrants sowie den Familienangehörigen und Flüchtlingen stark zu Ungunsten letzterer. Der Anteil der Wirtschaftsimmigranten ist von gut 30 Prozent Anfang der 80er Jahre auf nunmehr fast 60 Prozent angewachsen. Die humanitäre Verpflichtung Kanadas gegenüber Flüchtlingen aus aller Welt wurde in den letzten beiden Jahrzehnten hingegen immer weiter – rechtlich und materiell – eingeschränkt (kulminierend in einem Gesetz von 2004, das Flüchtlingen den Zuzug aus sicheren Drittstaaten untersagt).[4]

Insbesondere unter der aktuellen konservativen Regierung von Stephen Harper prägt die marktkonforme Logik entscheidend den narrativen Kontext, in dem insbesondere illegale Flüchtlinge die Rechtmäßigkeit ihrer Ansprüche durchzusetzen versuchen. In der Debatte um ein Flüchtlingsschiff aus Sri Lanka, das im Sommer 2010 nach Kanada kam, paarten sich (besonders in der konservativen Presse) Sicherheitsbedenken mit Sorgen wegen der angeblich inakzeptablen Kosten für den kanadischen Staat. Schlaglichtartig offenbarte sich die Spannung zwischen dem humanitären Bekenntnis zum Schutz von Flüchtlingen und einer Kommodifizierung von Migranten nach Marktkriterien.

Die "Wiederkehr der Gastarbeiter"

Ebenso aufschlussreich ist in dieser Hinsicht der explosionsartige Zuwachs der Migrantinnen und Migranten, die als temporäre Arbeitskräfte ins Land geholt werden. War deren Zahl bis vor einigen Jahren noch relativ gering, so hat sie sich über die letzten fünf Jahre mehr als vervierfacht. Im Jahr 2008 kamen über 250 000 vor allem in der Landwirtschaft, im Pflegebereich und der boomenden Ölindustrie Albertas zum Einsatz. Ihre Zahl überstieg damit erstmalig die der Einwanderer, die mit permanenter Aufenthaltsberechtigung ins Land gekommen sind. Die auf Zeit angeheuerten Migranten sind gesetzlich an die ihnen zugeteilten Arbeitsstellen gebunden; verlieren sie ihre Stelle, müssen sie das Land verlassen. Zudem erhalten sie nur minimale Sozialleistungen; sie leben unter teilweise erbärmlichen Umständen und haben kaum Zugang zu kollektiver Interessensvertretung.

Diese oft als "Wiederkehr der Gastarbeiter" bezeichnete Entwicklung ist keineswegs auf Kanada beschränkt. Unter anderem hatte auch Präsident George W. Bush vor einigen Jahren einen entsprechenden Gesetzentwurf in den US-amerikanischen Senat eingebracht. Der Grund: Derartige "Kurzzeit-Migranten" verursachen geringe Kosten, können flexibel im Arbeitsmarkt eingesetzt werden und entbinden den Staat weitgehend von der Verantwortung für einen langwierigen Integrationsprozess. Wenn Auswahl und Integration von Migranten einzig unter den Vorgaben der Marktrationalität geschehen, ist damit stets die Bereitschaft verbunden, diese als anpassungsfähige und dispensierbare Ware zu behandeln.

Auch die Gruppe der dauerhaft Einwandernden ist von dieser Tendenz betroffen. Auf den ersten Blick erscheint die Situation paradox: Kanada wählt seine Einwanderer zwar sorgfältig mit Blick auf Bildungstitel und Arbeitserfahrung aus, doch werden diesen Neuankömmlingen kaum berufliche Positionen eröffnet, die ihrer Qualifikation entsprächen. Ein Indiz für dieses Problem ist die seit den frühen 90er Jahren massiv gewachsene Kluft zwischen dem Einkommensniveau der im Land geborenen und der zugewanderten Bevölkerung. Die für klassische Einwanderungsnationen so entscheidende Idee, dass es nur einer geringen Übergangsfrist zur Integration bedürfe, wird immer seltener verstanden – auch eine Folge der gesellschaftlich immer stärker akzeptierten Wahrnehmung der Migranten als bloßer Ware: Einserseits gebietet eine solche Orientierung, das "Humankapital" von Migranten möglichst optimal zu nutzen und diese bruchlos in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Andererseits liegt es auch in dieser Logik, die Arbeitskraft von Zuwanderern möglichst vorteilhaft – und kostengünstig – zu nutzen.

Lohndumping und jahrelange "Übergangszeiten", in denen Neuankömmlinge weit unter ihrem Ausbildungs- und angemessenen Lohnniveau arbeiten, sind daher normalisierte Praktiken, die kaum noch als Skandal empfunden werden. Das eröffnet für Arbeitsgeber die Möglichkeit, die im Ausland erworbenen Fachkräfte über Jahre hinweg ohne angemessene Bezahlung zu nutzen. Die Reproduktion sozialer Ungleichheit und die strukturelle Benachteiligung von Migranten sind somit nicht notwendig Folge expliziter Diskriminierung; sie sind im Gegenteil durchaus mit der ökonomischen Logik der Vermarktung von prekärem, da durch die Migrationserfahrung tendenziell entwertetem "Humankapital" vereinbar.

Trotz dieser Tendenzen ist das kanadische Migrationssystem im Vergleich zum deutschen immer noch durch ein hohes Maß an gelungener Integration gekennzeichnet; strukturelle Benachteiligungen von Einwanderern im Arbeitsmarkt oder im Bildungsbereich reichen nicht bis in die zweite Generation hinein. Sogar die meisten der Flüchtlinge erreichen nach einer längeren Übergangsfrist fast den Grad der Arbeitsmarktpartizipation und das Einkommensniveau der in Kanada geborenen Bevölkerung. Politisch ist der Gedanke der Unverzichtbarkeit von Immigration so tief in der kanadischen Gesellschaft verankert, dass Positionen nur schwer durchsetzbar sind, die sich unter populistischen Vorzeichen gegen Immigration oder einzelne Einwanderergruppen wenden. Zu tief ist auch das Ethos des Multikulturalismus verankert, zu sehr haben auch die mannigfaltigen Integrationshilfen (settlement programs – Eingliederungshilfen, die vom Spracherwerb bis hin zur gezielten Schulung für den Arbeitsmarkteinstieg reichen) zu der dominanten öffentlichen Wahrnehmung beigetragen, dass Einwanderer einen positiven Beitrag zur kanadischen Gesellschaft leisten und Teil von deren kollektiver Identität geworden sind.

In gewisser Weise ist die kanadische Gesellschaft geschichtlich somit an einem Punkt ihrer – in den 60er Jahren eingeläuteten – Entwicklung angelangt, an dem einem Umschlagen in soziale Ausgrenzung und populistische Anfeindung von Migranten und Minderheiten weitgehend der gesellschaftliche Boden entzogen ist.

Deutschland dagegen sieht sich heute mit jener Herausforderung konfrontiert, die Kanada vor fast 50 Jahren angegangen ist: Für dringende sozial-ökonomische Fragen der Zukunft bietet sich eine liberale Migrationspolitik als gesellschaftspolitisch angemessene Antwort an. So kann es nicht überraschen, dass der Verweis auf den volkswirtschaftlichen Nutzen der geregelten Einwanderung ein maßgebliches Argument dafür ist, eine unerlässliche Neuorientierung auf diesem Politikfeld zu rechtfertigen.

Der Bezug auf das marktbasierte Kosten-Nutzen-Kalkül in der öffentlichen Debatte kann jedoch auch – nicht notwendig intendierte – Folgen haben, die den liberalen Kern einer solchen modernen Migrationspolitik zu desavouieren drohen. Entscheidend dafür sind stets die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen dieses Kalkül als Rechtfertigung für ein liberales Einwanderungsgesetz in Anschlag gebracht wird.

In der Bundesrepublik bestehen kein weit gefächertes System der Integrationshilfen und keine systematisch implementierte Antidiskriminierungsgesetzgebung wie in Kanada. In internationaler Perspektive zeichnet sich Deutschland des Weiteren durch einen sehr geringen Grad sozialer Mobilität unter Menschen mit Migrationshintergrund aus, was zu relativ stabilen Formen von sozialer Ungleichheit und Exklusion geführt hat.

Vor diesem Hintergrund kann das rein marktorientierte Kosten-Nutzen-Kalkül fatale Konsequenzen haben. Es ist politisch oftmals an die Erwartung unmittelbarer Produktivitätszuwächse geknüpft, die jedoch weniger als langfristige "Investition" denn als kurzfristige Korrektur für die Verwerfungen des Arbeitsmarktes gedacht sind. Untersuchungen aus Kanada machen jedoch deutlich, dass sich die positiven wirtschaftlichen Effekte oftmals erst nach einer jahrelangen Übergangsphase einstellen. Während Einwanderungsgesellschaften wie Kanada hierauf mit entsprechenden Integrationshilfen reagiert haben, ist in Deutschland eine immer stärkere Fixierung auf kurzfristige Gewinne feststellbar. Die Kriterien, die Zuwanderer erfüllen müssen, um unter dem neuen Einwanderungsgesetz nach Deutschland kommen zu können (etwa Qualifikationsniveau oder Minimalgehalt), werden äußerst restriktiv an den unterstellten unmittelbaren volkswirtschaftlichen Nutzen geknüpft. So ist die dauerhafte Niederlassungserlaubnis seit Anfang 2009 an ein Jahreseinkommen von mindestens 63 600 Euro gebunden (ähnlich in Großbritannien mit seinem Highly Skilled Migrant Programme).

Das Resultat ist eine Negativspirale: Das Argument der eingeforderten (Arbeits-)Marktkompatibilität wird zur Rechtfertigung immer höherer Zugangsschranken herangezogen. Die Kriterien werden restriktiver und die Migrantenzahlen durch Anwerbung damit stetig geringer. So kann es nicht überraschen, dass sich im Jahr 2008 nur einige Hundert der umworbenen Hochqualifizierten aus Nicht-EU-Ländern dauerhaft in Deutschland niedergelassen haben. Auf diese Weise wird das eigentliche Anliegen eines modernen Einwanderungsgesetzes, die positiven Effekte des Zuzugs von Migranten zu nutzen, zur Farce.

Ähnlich verhält es sich mit der Aufgabe, die dem Staat bei der Gestaltung der Einwanderung zufällt. Unter dem neoliberalen Diktum liegt es nahe, den Staat aus seiner Verantwortung (etwa für langfristige Integrationsprogramme) zu entlassen und diese ganz dem Markt zu überantworten. Im bundesrepublikanischen Kontext ist es entsprechend auffällig, dass das Potential bereits ansässiger Einwanderer, die oftmals mit hohen Qualifikationen ins Land gekommen sind, weitgehend ungenutzt bleibt.[5]

Im Ergebnis droht das verengte ökonomische Nutzenkalkül der deutschen bzw. europäischen Praxis die Versuche zu untergraben, eine liberalere Einwanderungspolitik rational zu rechtfertigen. Es kann zu dem kommen, was man – verwissenschaftlicht – als "negative Rückkoppelung" bezeichnen könnte: Durch die strukturelle Benachteiligung von Migrantinnen und Migranten im Bildungsbereich und auf dem Arbeitsmarkt spielt das ausschließliche Abheben auf ein marktförmiges Nutzenkalkül leicht denen in die Hände, die – unter vermeintlich rein nutzenorientierten Vorzeichen – Einwanderer als bloße Belastung für das gesellschaftliche Allgemeinwohl bezeichnen. Dass Einwanderer mit wenig privilegierten Positionen im Arbeitsmarkt und hoher Arbeitslosigkeit assoziiert werden, wird dann als Vorwurf auf diese zurückgeworfen – ungeachtet der strukturellen Bedingungen, die deren relative soziale Deprivation hervorgebracht haben. Die vermeintliche "Integrationsverweigerung" gilt dann wiederum als Indiz dafür, dass Einwanderung sich ohnehin nicht "lohne".

Ist die Schuldzuweisung erst einmal auf die Immigranten abgewälzt, ist es zur ethnischen Essenzialisierung nur mehr ein kleiner Schritt. So wie bei Sarrazin zu beobachten, können Migranten dann unter populistischen Vorzeichen als "wertlos" und als "Belastung" denunziert werden. Und die Politik ist aus ihrer Verantwortung dafür entlassen, Migration und Integration so zu gestalten, dass ihr – nicht nur wirtschaftliches – Potential tatsächlich zur Entfaltung kommen kann.

In gewisser Weise bietet die Marktlogik somit ein letztes Refugium für westliche Demokratien, um den Ausschluss des Anderen – in diesem Fall der "marktinkompatiblen" Migranten – zu rechtfertigen. Wie Noberto Bobbio überzeugend feststellte, kann eine Demokratie nicht "exklusiv" sein, ohne auf das eigene Wesen einer "offenen Gesellschaft" zu verzichten.[6] Die Marktlogik bietet ein vermeintlich rationales Medium, diese Ausschließung zu rechtfertigen, ohne auf rassistische Argumentationsmuster zurückgreifen zu müssen, die mit dem normativen Selbstverständnis liberaler Demokratien unvereinbar wären. Das wirtschaftliche Nutzenkalkül reklamiert für sich rein vernunftgeleitete Erwägungen – den Schutz der einheimischen Erwerbstätigen, des Wohlfahrtsstaates etc. –, um diese Exklusion zu legitimieren. Das Buch von Thilo Sarrazin ist insoweit nur ein weiteres Beispiel dafür, wie unter dem Banner ökonomischer Rationalität das populistische Ressentiment gegen Minderheiten und sozial Schwache mobilisiert und politisch ausgebeutet werden kann.

[1] Thilo Sarrazin, Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen, München 2010.

[2] Vgl. Peter Li, Destination Canada: Immigration Debates and Issues, Oxford 2003.

[3] Vgl. Yasmeen Abu-Laban und Christina Gabriel, Selling Diversity. Immigration, Multiculturalism, Employment Equity, and Globalization, Peterborough/ON 2002.

[4] Der Fairness halber sollte erwähnt werden, dass die Zahl der in Kanada aufgenommenen Flüchtlinge bei rund 25 000 jährlich liegt.

[5] Vgl. Arnd Nohl, Karin Schittenhelm, Oliver Schmidtke und Anja Weiß (Hg.), Kulturelles Kapital und Migration, Opladen 2009.

[6] Vgl. Noberto Bobbio, Die Zukunft der Demokratie, Berlin 1988; vgl. auch Albrecht von Lucke, Propaganda der Ungleichheit. Sarrazin, Sloterdijk und die neue "bürgerliche Koalition", in: "Blätter", 12/2009, S. 55-63.

 

(aus: »Blätter« 10/2010, Seite 51-57)
Themen:
Migration, Arbeit und Kultur


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