Sonntag, 18. Juli 2010

Sammelband zur Universität Tübingen im Nationalsozialismus erschienen [idw]


Informationsdienst Wissenschaft - idw - Pressemitteilung
Eberhard Karls Universität Tübingen, Michael Seifert


Sammelband zur Universität Tübingen im Nationalsozialismus erschienen

Wichtige neue Detailstudien über Täter, Opfer, geistige Drahtzieher
und Mitläufer



Unter dem Titel "Universität Tübingen im Nationalsozialismus" ist soeben ein umfangreicher
Sammelband von 1136 Seiten im Franz Steiner Verlag erschienen.

Er gibt den gegenwärtigen Forschungsstand zum Thema wieder und  enthält zahlreiche neue
Details und neue Perspektiven zur Geschichte der Universität während der nationalsozialistischen Diktatur.

Der Band umfasst Studien zum Alltag an der Universität, zu Verbrechen und zu Personen, zu
einschlägigen Themen des Nationalsozialismus sowie Studien der Aufarbeitung dieser Zeit  nach 1945.

Der Band wird herausgegeben von Prof. Dr. Urban Wiesing, Lehrstuhl für Ethik und Geschichte
der Medizin der Universität Tübingen und Vorsitzender des 2001 gegründeten Arbeitskreises
"Universität Tübingen im Nationalsozialismus", Dr. Klaus-Rainer Brintzinger, Direktor der
Universitätsbibliothek  der LMU München, Dr. Bernd Grün, Lehrer in Ludwigsburg, Privatdozent Dr. Horst Junginger,
Religionswissenschaftler an der Universität Tübingen, und Dr. Susanne Michl, Universität Greifswald.

Der Sammelband, der an die Ergebnisse früherer Arbeiten zur Geschichte der Universität

Tübingen anschließt, enthält zahlreiche Einzelstudien, die über bisherige Forschungsergebnisse hinausgehen.

Die bemerkenswerte Dynamik innerhalb einer vergleichsweise kurzen Zeit, die Planungseuphorie
für neue, politisch gewollte Fächer, die Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit der formalen und
inhaltlichen Gleichschaltung sowie der unterschiedlichen Formen der' Selbstgleichschaltung', die damit
einhergehende aggressive Personalpolitik, die verschiedenen Schattierungen zwischen Anpassung
und verhaltenem Autonomiestreben werden in Einzelfallstudien untersucht.

Viele Professoren schätzten die Machtergreifung der Nationalsozialisten falsch ein, nicht wenige
begrüßten sie,  nur ganz wenige haben vereinzelt Widerstand geleistet.
 
Die große Mehrheit versuchte durch Anpassung, (Selbst-) Gleichschaltung, Opportunismus
oder innere Emigration mit der neuen Konstellation fertig zu werden und ihre Karriere zu gestalten.
 
Die Universität Tübingen hat keinen exponierten Vertreter des Widerstands hervorgebracht.
 

So haben beispielsweise die Mediziner keinerlei Bedenken gehegt, ob die
Zwangsterilisationen mit dem ärztlichen Ethos vereinbar wären.

 

Auch am Tübinger Beispiel zeigt sich, dass der Nationalsozialismus an den
deutschen Universitäten nicht auf eine kleine Tätergruppe reduziert werden kann.

Das Eingehen auf den Rassendiskurs des "Dritten Reiches" gehört sicherlich zu

den wichtigsten Veränderungen, die sich an der Universität ereigneten.

Viele Fächer nahmen rassenkundliche Themen auf und verarbeiteten sie in einer den
neuen politischen Verhältnissen konformen Weise.

Zu einem besonderen Schwerpunkt wurde dabei die universitäre "Judenforschung", die – so

lässt sich zeigen – an eine lange Tradition christlich motivierter Judenfeindschaft anknüpfen konnte.

So behauptete der katholische Dogmatiker Karl Adam, die Ziele des Christentums und des
politischen Antisemitismus des Nationalsozialismus stimmten weitgehend überein.

Der Tübinger evangelische Neutestamentler Gerhard Kittel plädierte in seiner Schrift Die Judenfrage für
den Ausschluss der Juden aus der deutschen Gesellschaft.

Sein Werk brachte es zu unrühmlicher Bekanntheit besonders durch die hypothetische Überlegung,
dass letztlich nichts anderes übrig bliebe, als alle Juden umzubringen, falls es nicht gelingen sollte,
zu einer befriedigenden Segregationslösung zu kommen.

Keine andere Universität in Deutschland musste 1933 weniger Juden entlassen, weil bereits
lange vorher die Anstellung von Juden verhindert worden war.

 

Der Universitätskanzler August Hegler betonte mit Stolz am 25. Februar 1933 im Großen Senat:

"[…] man habe hier die Judenfrage gelöst, dass man nie davon gesprochen habe."

Auf diesem Hintergrund bildete sich eine Form des "wissenschaftlichen Antisemitismus" heraus, der im

September 1942 in die Ernennung des evangelischen Theologen Karl Georg Kuhn zum außerplanmäßigen

Professor für die Erforschung der "Judenfrage" einmündete.

 

Etliche Professoren äußerten sich dezidiert antisemitisch und versuchten, mit ihrem
Antisemitismus in der politischen Lage Opportunitätsgewinne zu machen.

Mehrere Aktivisten des nationalsozialistischen Studentenbundes, diespäter zu Einsatzkommandoführern

wurden und die sich an führender Stelle an der Ermordung des europäischen Judentums beteiligten, hatten
in diesem Klima des Antisemitismus an der Universität Tübingen studiert und selbst aktiv dazu beigetragen.

Der letzte dieser Kriegsverbrecher, Martin Sandberger,
starb Ende März 2010 in einem Stuttgarter Seniorenstift.

Neben dem Täterkomplex bilden die Opfer des nationalsozialistischen Rassenwahns einen Schwerpunkt des Sammelbandes.

Die Zwangssterilisationen werden thematisiert, ebenso die Situation der
Zwangsarbeiter und die Situation der wenigen Juden.

Eine geistige Elite an der alt-ehrwürdigen Universität ließ sich zuweilen auch zu absurden Reaktionen verleiten.

 

Evangelische Theologen diskutierten ernsthaft, dass Adolf Hitler Gottes Wille sein müsse.

"Meine Herren, wer nicht erkennt, dass der Führer uns von Gott gegeben ist, ist entweder töricht oder bösen Willens",

so Karl Fezer, Praktischer Theologe und erster "Führerrektor" der Universität, gegenüber Repetenten des Stifts.

In den Tübinger "Zwölf Sätzen" vom 12. Mai 1934, der sich 14 Tübinger Theologiedozenten angeschlossen
haben, heißt es: "Wir sind voll Dank gegen Gott, dass er als der Herr der Geschichte unserem Volk in
Adolf Hitler den Führer und Retter aus schwerer Not geschenkt hat."

Weitere Beispiele einer geradezu absurden Entstellung von Wissenschaft zeigten sich bei Berufungsverfahren.
Dort spielten politische und außerwissenschaftliche Fragen bald eine tragende Rolle.

So hielt es die wirtschaftswissenschaftliche Abteilung 1938 für zweckmäßig, in einem Berufungsgutachten
festzuhalten, dass der ins Auge gefasste Kandidat "aus Anlass der Durchführung des
Parteitages 1933 ein Bild mit eigenhändiger Unterschrift des Führers" besitze.

Herausgeber Urban Wiesing resümiert:

"Die Geschichte des Nationalsozialismus und die Universitätsgeschichte müssen nicht neu
geschrieben werden, aber wir haben zahlreiche neue Details und Perspektiven herausarbeiten können.

Die traditionsreiche, hoch angesehene Universität Tübingen, ein Ort der Bildung und
Wissenschaft, war offensichtlich nicht vor einem Rückfall in Barbarei geschützt.

Die Schutzschicht der Zivilisation kann auch bei einer altehrwürdigen Universität sehr dünn sein.

Forschung und Wissenschaft schützen offensichtlich nicht vor ungeheuerlichen
Abweichungen von der Zivilisation."

Im Rahmen des Sammelbandes ist eine umfangreiche Bibliographie der Sekundärliteratur entstanden.

Sie ist daher selbständig in elektronischer Form publiziert worden:
<
www.nationalsozialismus.uni-tuebingen.de >

und www.uni-tuebingen.de/einrichtungen/stabsstellen/universitaetsarchiv.html

Bibliographische Angaben:
Urban Wiesing, Klaus-Rainer Brintzinger, Bernd Grün, Horst Junginger,
Susanne Michl (Herausgeber): Die Universität Tübingen im
Nationalsozialismus. Franz Steiner Verlag, 2010 (Contubernium –
Tübinger Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte 73).
1136 S. € 99, ISBN 978-3-515-09706-2

Eberhard Karls Universität Tübingen
Hochschulkommunikation
Abteilung Presse und Forschungsberichterstattung
Michael Seifert
Wilhelmstr. 5 · 72074 Tübingen
Tel.: 0 70 71 · 29 · 7 67 89 · Fax: 0 70 71 · 29 · 5566
E-Mail: <michael.seifert[at]uni-tuebingen.de>
Wir bitten um Zusendung von Belegexemplaren!

Arten der Pressemitteilung:
Forschungsergebnisse
Wissenschaftliche Publikationen

Sachgebiete:
Geschichte / Archäologie
Gesellschaft
Medizin
Politik
Religion

Zu dieser Mitteilung finden Sie Bilder unter der WWW-Adresse:
http://idw-online.de/pages/de/image120673
NS-Bild2: Vorbeimarsch von SA-Studenten

http://idw-online.de/pages/de/image120674
NS-Bild3: Umbenennung des Platzes vor der Neuen Aula am 11. Mai 1938 in Langemarckplatz


Die gesamte Pressemitteilung inkl. Bilder erhalten Sie unter:
http://idw-online.de/pages/de/news379568

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung stehen unter:
http://idw-online.de/pages/de/institution81

Posted via email from 01159 Dresden Löbtau-Süd und Umgebung

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen