Mittwoch, 23. Juni 2010

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Fetisch Mobilität

Totalschaden. Das Autohasserbuch

Von Klaus Gietinger
 

Klaus Gietinger, studierter Soziologe, Theater- und Filmregisseur, ist jW-Lesern vor allem bekannt durch seine historischen Arbeiten zu Rosa Luxemburg. Heute erscheint von ihm im Frankfurter Westend Verlag ein Buch, das sich mit der globalen Kfz-Gesellschaft befaßt. Es liefert allerneueste Fakten und Analysen zu den Folgekosten des Autowahns und schlägt Wege aus der Sackgasse vor. Wir veröffentlichen daraus ein um Fußnoten und einige Passagen gekürztes Kapitel.


Wer das Auto meint, spricht in der Regel über Mobilität. Mobilität, darin sind sich Automanager, Gebrauchtwagenhändler, Bischöfe, Schwarze, Gelbe, Grüne, Rote oder auch grenzdebile Bundespräsidenten einig, sei das wichtigste Recht überhaupt, das allerwichtigste, das Grundrecht schlechthin. Definiert wird dabei nie.

Ja, was ist denn Mobilität? Mobilität heißt nichts anderes als Bewegungsfreiheit. Begriffen wird sie heute als Recht, überall und zu jeder Zeit hin- und zurückzufahren – wohlgemerkt: zu fahren. Doch wozu bewegt man sich denn und wie? Man hat Bedürfnisse: Essen, Trinken, Kleidung, Unterhaltung, menschliche Nähe, Kunst, Liebe, und dann ist da noch die Arbeit. Um diese Bedürfnisse zu erfüllen, muß man meist das Haus verlassen. Früher geschah das zu Fuß, mit dem Rad, mit der Straßenbahn, dem Bus oder dem Zug. Noch früher mit der Kutsche oder dem Pferd, so man sich's leisten konnte. Heute überwiegend mit dem Auto.

»Wir sind mobiler geworden«, behauptet jeder, der davon redet. Als Beweis führt man die zurückgelegten Strecken an. Als Gradmesser der Mobilität gelten die Anzahl der Personen und die Kilometer, die sie zurückgelegt haben. Das ist die sogenannte Verkehrsleistung, ausgedrückt in Personenkilometern. Man kann die von jedem Einwohner pro Jahr zurückgelegten Kilometer ausrechnen, allerdings nur die qua Motor bewältigten Kilometer: mit Pkw, Bus, Tram, U-Bahn, Eisenbahn und auch Flugzeug. Fußgänger und Fahrradfahrer bleiben eher unberechenbar.

War der durchschnittliche Volksgenosse im Nazideutschland des Jahres 1937 gut 2000 Kilometer motorisiert unterwegs, steigerte dies der Otto Normalverbraucher im Wiederaufbau (BRD und DDR) 1955 schon auf 3 500 Kilometer. Dann kam die Massenmotorisierung. 1970 – dem Jahr, in dem es in den USA und Europa auch die meisten Opfer dieser Politik gab – waren es schon über 7000 Kilometer und 1990, im Jahr der »Einheit«, fast 11000 Kilometer. Heute sind es fast 13500 Kilometer. Legte also ein Deutscher 1937 am Tag mit Motor weniger als sechs Kilometer zurück, waren es 1955 knapp zehn und sind es heute fast 37 Kilometer.

Das heißt, heute fahren wir 6,5mal soviel wie unsere Nazigroßeltern und fast viermal soviel wie unsere Wirtschaftswundereltern. Seit der Jahrtausendwende ist allerdings, trotz tendenziell immer noch leichter Zunahmen, die Dynamik raus. Natürlich macht der Autoverkehr den allergrößten Anteil aus, wenn auch der (vor allem innerdeutsch hochsubventionierte) Flugverkehr aufholt.

Schneller unterwegs

Doch was sagen uns diese Kilometerzahlen? Sind die Deutschen deshalb mobiler, nur weil sie bedeutend mehr Kilometer runterreißen? Sind sie dadurch freier? Sparen sie vielleicht Zeit? Hier sind wir beim nächsten Faktor, der keinesfalls vergessen werden darf. Laut aller Mobilitätsuntersuchungen, die seit den 70er Jahren intensiv betrieben werden, ist das Pro-Kopf-Reisezeitbudget der Deutschen ziemlich konstant und hat sich in den letzten Jahren nur leicht erhöht. Tag für Tag sind Mann und Frau etwa 70 bis 75 Minuten lang unterwegs, womit sie sich ziemlich genau auf dem Durchschnitt ihrer EU-Mitbürger bewegen. Es gibt Forscher, die belegen, daß dieses Zeitbudget sich seit Beginn der Neuzeit, mindestens jedoch seit 100 Jahren, nicht groß verändert hat und auf der ganzen Welt in etwa gleich ist. So stellte etwa der dänische Wissenschaftler Bendtsen fest, daß die Konstanz der Reisezeiten schon im Dänemark von 1914 nachweisbar ist.

Wenn aber die Zeit, die wir – immer nur mit einem Motor unterm Hintern gerechnet – im Straßenraum oder auf Schienen verbringen, konstant bleibt bzw. nur leicht zunimmt, kann mit einer einfachen Formel erklärt werden, was mit uns tatsächlich passiert. Wir wissen alle, daß die Geschwindigkeit in Kilometern pro Stunde gemessen wird: Geschwindigkeit = Weg/Zeit, also v=w/t. Wenn also unsere Reisezeit (t) konstant ist oder nur leicht steigt, der zurückgelegte Weg (w) aber enorm zunimmt, dann kann das nur heißen, daß wir schneller unterwegs sind.

Und tatsächlich: Die Durchschnittsgeschwindigkeit lag 1937 bei knapp fünf km/h, 1955 bei gut acht km/h und 2009 bei gut 30 km/h – bezogen auf jeden Deutschen, ob mobil oder nicht. Jetzt muß noch die Frage geklärt werden, wie oft wir unterwegs sind. Und hier ist die Antwort ähnlich verblüffend wie beim Zeitbudget. Es sind täglich etwa 3,5 Wege, und auch dieser Wert ist seit Jahrzehnten konstant oder steigt nur ganz geringfügig. Wenn wir uns aber immer gleichviel Zeit nehmen und immer gleichviele Wege fahren, haben sich nur zwei Dinge verändert: Wir fahren nicht nur schneller, sondern auch weiter. Aber unsere Bedürfnisse selbst bleiben im Prinzip gleich. Sich für deren Befriedigung immer schneller und weiter zu bewegen ist keine Frage der Qualität, ist lediglich eine der Quantität. Und genau diesen Schwachsinn sehen die massenhaft vorhandenen Mobilitätsfetischisten dann als Basis unserer Zivilisation. Ja, diese Form von Mobilität ist Basis, aber die einer zutiefst unmenschlichen Gesellschaft.

Um es nochmals zu verdeutlichen: Der durchschnittliche Deutsche hat vor 50 Jahren pro Tag 3,5 Wege zurückgelegt. Er hat Brötchen geholt, ist mit dem Fahrrad ins Kino oder mit der Tram zur Arbeit gefahren. Dafür ist er eine gute Stunde (75 Minuten) unterwegs gewesen. Heute ist das nicht viel anders. Unser Durchschnittslandsmann macht 3,6 Wege am Tag und bewegt sich weiter eine gute Stunde im Verkehr, vielleicht ein paar Minuten mehr. Doch die Entfernungen, die er dabei zurücklegt, sind wesentlich größer. Er steigt ins Auto, um von Fulda nach Frankfurt zur Arbeit zu fahren, holt seine Brötchen aus dem kilometerweit entfernten Supermarkt und fährt ins Kinocenter auf der grünen Wiese. Zugenommen haben nur die Kilometer, die er dabei runterreißt, und die Geschwindigkeit, mit der er sich dabei fortbewegt. Gewonnen hat er aber qualitativ so gut wie nichts. Mobilität ist ein Fetisch, ein fauler Zauber und hat nichts mit Freiheit oder Lebensqualität oder Bedürfnissen zu tun. Am wenigsten damit, von A nach B zu kommen, weil man ja auch zum weiter entfernten B' kommt. Oder anders: Es geht nicht darum, sich die Bewegung von einem Punkt zum nächsten zu erleichtern. Wer das behauptet, macht sich einer Zwecklüge schuldig.

Spritschlucker im Trend

In Wirklichkeit geht es darum, sich motorisiert zu bewegen. Nicht der Weg ist hier das Ziel, sondern der Spaß beim Überwinden des Weges. Und die Geschwindigkeit ist das zentrale Element dieses ganzen Affentanzes. Deswegen werden die Autos auch immer PS-stärker und schwerer, deswegen sinkt der Durchschnittsverbrauch kaum. Dazu einige Beispiele.

Der VW-Golf wog 1977, als er neu herauskam, 750 Kilogramm, heute, 2010, wiegt er 1,6 Tonnen, also mehr als doppelt soviel. Warum? Weil die Fahrzeuge immer schneller und die Motoren immer mächtiger werden. Der Golf R32 ist inzwischen mit 250 PS zu haben. Doch auch sonstige kleinere Fahrzeuge können sich »sehen« lassen: 1er BMW 265 PS, Mercedes A-Klasse 193 PS, Mini 211 PS. VW Polo, über eine Tonne, über 200 km/h schnell. Und ganz oben wird es unglaublich: BMW X5 360 PS, Mercedes CL 600 517 PS, Cayenne S Turbo 500 PS, bei Höchstgeschwindigkeit 66,7 Liter Superkraftstoff auf 100 Kilometer. Da kommt man mit einer Tankfüllung nicht weit. (...)

Dies führt alles dazu, daß der durchschnittliche Kraftstoffverbrauch von Autos (Ottomotor und Diesel) auf dem Niveau der 50er Jahre liegt– allen Versprechungen und großen technischen Innovationen zum Trotz.

So versprach Ferdinand Piëch, damals noch Entwicklungschef von Audi, schon 1979, den Durchschnittsverbrauch bis 1990 auf die Hälfte, also 5 l/100 km senken zu wollen. Und der damalige Verkehrsminister Matthias Wissmann (CDU), heute Chef des VDA, hielt 1994 diesen angepeilten Durchschnittsverbrauch immerhin bis 2005 für möglich. Die aktuellen Zahlen strafen beide Lügen. Das hat natürlich mit den schweren, PS-starken Wagen zu tun und mit der Autofahrerideologie, daß nur Tempo und Gasgeben Spaß und Sinn machen.

Und seit Jahren nimmt die durchschnittliche Motorleistung der deutschen Pkw zu. Bei Neuwagen ist man hierzulande 2008 im Schnitt bei 132 PS angekommen! Im Vision-Zero-Land Schweden, das tatsächlich weltweit am wenigsten Verkehrstote pro Einwohner zu verzeichnen hat, liegt der Pegel mit 142 PS noch höher – getoppt nur noch und ausgerechnet vom Bahnland Schweiz mit 146 PS. Dabei hat das Auto, unabhängig von seinem Antrieb und seinem Verbrauch, fünf entscheidende Nachteile, wie Winfried Wolf festgestellt hat – Nachteile, die es auch hätte, wenn es vollkommen clean, also ohne die geringste Luftverschmutzung fahren würde, was schon allein wegen des Abriebs und der Staubent­wicklung unmöglich ist.

1. Das Auto hat aufgrund seiner breiten Räder einen viel größeren Rollwiderstand als ein Schienenfahrzeug, das nur mit einer ganz geringen Fläche auf der Schiene aufliegt. Das führt automatisch zu einem hohen spezifischen Energieverbrauch.

2. Der durchschnittliche Besetzungsgrad eines Pkw liegt z. Zt. bei 1,4 Personen, Tendenz fallend. Das sind bis zu 2,5 Tonnen Fahrzeug für zwei Zentner Mensch. Ein widersinniges Verhältnis, eine unglaubliche Energieverschwendung.

3. Der Flächenverbrauch eines solchen Fahrzeugs ist sowohl im Stand als auch während der Fahrt derart gigantisch, daß es nie genug Straßen und nie genug Parkplätze geben kann. Ein aussichtsloses Unterfangen.

4. Je höher die Pkw-Dichte, um so geringer die Geschwindigkeit. Sie ist in der Autostadt der Welt, Los Angeles, wo es die meisten Kfz und Highways pro Mensch gibt, mit am geringsten: 20 km/h. Da kann ein sportlicher Radfahrer locker mithalten.

5. Und last but not least: Autofahren ist tödlich und fordert mehr Opfer als alle Kriege, Naturkatastrophen und auch jede andere Technik zusammen. Die Zahl der Verletzten und Verkrüppelten ist fast unüberschaubar. (...)

Ich möchte noch einen sechsten Punkt hinzufügen: Ab Tempo 40 sind die Rollgeräusche der Kfz lauter als ihr Motor. Also würden auch Elektroautos unter jetzigen Bedingungen extrem viel Lärm verursachen.

 

Gigantischer Flächenverbrauch

Aber widmen wir uns zunächst dem Flächenverbrauch. Ein wunderbares Beispiel für die völlig absurde Mobilitätsideologie.

Fahrzeuge, das kann nicht oft genug gesagt werden, sind eigentlich vorzugsweise Stehzeuge, denn sie stehen 97 Prozent ihrer Zeit herum. Währenddessen verbrauchen sie gigantische Flächen, die ihnen und ihren Besitzern vom Staat und den Kommunen praktisch kostenlos zur Verfügung gestellt werden. Ein absolutes Unding. Doch das Auto hat nie genug Parkfläche. Schon 1965 (!) errechneten die Frankfurter Stadtplaner, daß, wenn alle, die in der Innenstadt arbeiten, mit dem Auto kämen und einen Parkplatz suchten, Abstellflächen in der Größenordnung der gesamten Innenstadt hermüßten. Das ist natürlich Wahnsinn, aber doch ein Wahnsinn, den man auch heute noch keinem Autofahrer klarmachen kann. (...)

Und wenn das Stehzeug dann endlich fährt, verbraucht es noch viel mehr Fläche. Markus Schmidt hat den »dynamischen Flächenverbrauch« aller Verkehrsteilnehmer einmal ausgerechnet. Darunter ist die Fläche zu verstehen, die ein Fahrzeug pro Person bei einer bestimmten Geschwindigkeit vor sich her »schiebt« bzw. braucht, um anhalten zu können. Das platzsparendste Auto, der Smart, schiebt schon mit 30 km/h eine Fläche von 16 Quadratmeter pro Person vor sich her, mit 50 km/h 30 Quadratmeter und mit 100 km/h 82 Quadratmeter. Immer unter der Bedingung optimaler Bremsen und Reaktion. In einer Stadt mit Tempo 50 km/h passen damit grade mal gut 60 Smarts auf einen Kilometer Fahrbahn. Oder umgerechnet: Diese 60 Smarts verbrauchen über 2 300 Quadratmeter Fläche – allerdings eben eine dynamische Fläche, einen Schatten, der sich mit den Autos durch die ganze Stadt bewegt. Würden alle Autoinsassen dagegen in einer Straßenbahn fahren, wäre der Flächenverbrauch um ein Vielfaches geringer. Mit dem Auto können auf einer Straße mit Mischverkehr 220 Personen (pro Stunde je Meter Straßenbreite) befördert werden, mit der Straßenbahn sind es 3500, mit der S-Bahn gar 9000. Zu Fuß übrigens genauso viel wie mit der Tram: 3500.

Das Auto, das so viel Freiheit verspricht, begrenzt allein schon durch seinen Platzverbrauch die Freiheit der vielen anderen, wobei dieser Flächenverbrauch mit zunehmender Geschwindigkeit exponentiell steigt. Ein Porsche Cayenne hat bei 250 km/h pro Person einen Bremsschatten von über 300 Quadratmeter, ein Mercedes S 400 Hybrid (der hat nicht soviel Luft-, also Bremswiderstand wie das Cayenne-Monster) sogar fast 360 Quadratmeter. Daher die gigantischen Flächen, die für Autobahnen benötigt werden.

Falsche RechnungenDas einzige wirkliche Bedürfnis, das hier befriedigt wird, ist, das Gaspedal durchzudrücken. Dabei ist belegt, daß kleinteilige »Wirtschaft«, also »Wirtschaft« unabhängig von Großkonzernen, nur dort wirklich existiert, wo nicht vorbeigerast wird. So war z. B. den Geschäftsleuten in Ginnheim – als wir gegen die U-Bahn kämpften – durchaus klar, wenn die U-Bahn die Straßenbahn ersetzt, wenn unten durchgeschossen, statt oben gefahren wird, können sie ihre Geschäfte, ihre Apotheken, ihre Textilwarenläden zumachen, denn dann fährt der Fahrgast, ohne auch nur zu sehen, was oben ist, unten durch, ins nächste Einkaufszentrumskonglomerat in der Nordweststadt. Bleibt aber die Tram, bleiben auch die Kunden. Immer da, wo schnelle Straßen und schnelle Verkehrswege vorbeiführen, haben die vor Ort das Nachsehen. Schnelle Strecken beschleunigen die Kapitalakkumulation und Konzentration, und sie verarmen ganzen Regionen. Schon jetzt ist in Deutschland nicht nur ein Ost-West-, sondern auch ein Nord-Süd-Gefälle spürbar. Im Norden Deutschlands veröden ganze Städte (zum Beispiel Flensburg – da, wo es immer zu wenig Punkte gibt). Im Süden gibt es noch zahlreiche wohlhabende Städte und Dörfer, aber grundsätzlich ist es ums flache Land relativ schlecht bestellt, eben weil mit Auto und Zug durchgefahren oder drüber hinweggeflogen wird. Kohorten von Wissenschaftlern sind damit beschäftigt, die Kosten-Nutzen-Vorteile neuer oder schnellerer Straßen (bzw. Schienenstrecken) zu errechnen. Man spare Treibstoff, Unfälle, tue der Umwelt Gutes und beseitige die Staus. Das wird dann alles in Geld umgerechnet, Geld, das nie vorhanden ist und nie gespart wird. Denn es ist eine Lüge, daß mit schnellen Verkehrsmitteln Zeit gespart wird. Nicht eine Sekunde. Der Stau wiederum ist das Schreckgespenst der Kfz-Gesellschaft. Die Drogenbarone und ihre Helfershelfer werden nicht müde, von gigantischen Staukosten zu faseln und wieviel Treibstoff doch dabei verloren ginge – als ob stehen und langsam fahren mehr Benzin kosten würde als Schnellfahren, auf deutsch: rasen. Das oberste Ziel der Stauschreckensszenarien (der ADAC ist hier Weltmeister) ist jedoch einzig und allein, den Straßenbau und die Förderung des Kfz-Verkehrs staatlicherseits weiter zu puschen.

Dazu werden dann sogar falsche Rechnungen präsentiert: Der Benzinkonsum und damit auch die Abgasmengen würden bei Stop and go ansteigen. Was völliger Unsinn ist. Messungen in Stuttgart haben denn auch das genaue Gegenteil belegt: Bei höheren Geschwindigkeiten in der Stadt wird ein Vielfaches an Stickoxiden und Kohlenwasserstoffen ausgestoßen. Der Stau ist also, was Abgase angeht, das geringere Problem– was der ADAC mit seinen fantastischen Zahlen selbst bestätigt: Täglich komme es durch Staus zu einer Vergeudung von 33 Millionen Liter Sprit und einem Zeitverlust von 13 Millionen Stunden. Das macht, wie Markus Schmidt beweist, jedoch bloß 2,5 Liter pro Staustunde. Keine Autobahnstunde schafft diesen niedrigen Durchschnittswert. Der Stau schadet also weniger als die Geschwindigkeit.

Im übrigen entstehen Staus aufgrund der schon vorhandenen gigantischen Straßenflächen meist an sogenannten Knoten, an der »Verkehrskolonnen« aus verschiedenen Richtungen aufeinandertreffen. Genau an diesen Knoten findet der größte Ausbau statt, mit Überwerfungen, Umgehungsstraßen usw. Genau hier kommt es aber auch immer wieder zu Staus. Stau entsteht dort, »wo man Jahre vorher enorme Investitionen getätigt hat, um die Verhältnisse für den Autoverkehr zu verbessern, also Wartezeiten abzubauen«. (...)

Es muß fließen ....Dabei wäre heute die Chance, umzudenken und umzubauen – ganz abgesehen von der Klimadiskussion – größer denn je. Tatsächlich sinken die Steigerungsraten der Motorisierung in unserem Land, tatsächlich wird es bald weniger Menschen hier geben, tatsächlich sind junge Leute nicht mehr so auf Motorisierung erpicht, alte noch nicht hypermotorisiert. Das heißt, würden jetzt keine Straßen mehr gebaut, dann würde sich auch der Pkw-Verkehr, der sowieso nur noch gering wächst bzw. durch den Crash derzeit stagniert, nicht weiter ausdehnen, würde der Zuwachs auch langfristig zum Stillstand kommen. Würde man ferner restriktive Maßnahmen gegen den Lkw-Verkehr einleiten, wäre auch dessen Zuwachs gestoppt. Doch keiner tut es, schon gar nicht die neue Regierung – aber auch die Rot-Grünen haben schon nichts getan, im Gegenteil. Die Ideologie des Autofahrens ist so ungebrochen wie eh und je.

Die heilige Kuh lautet hier: »Verkehr muß flüssig sein.« Hinter dieser Ideologie rennen sie dann alle hinterher wie der Hase hinter dem Igel – der sich ja bekanntlich gar nicht bewegt, sondern zusammen mit seiner Frau die Überlegenheit der Geschwindigkeit Null demonstriert. Es muß fließen, fließen, fließen. Nur wohin? Immer weiter weg.

»Es bleibt nicht dabei, daß wir uns an der Ersparnis von Zeit und Kraft genügen lassen …, sondern wir vergrößern das räumliche Ausmaß unseres Bewegungsfeldes«, schreibt schon 1925 ein Verkehrswissenschaftler namens Prof. Wentzel. Und schon ist der Zeitgewinn verfahren im wahrsten Sinne des Wortes. Denn Mann/Frau gurkt deswegen nicht weniger, sondern immer nur weiter herum. Zeitgewinne werden in zusätzliche Kilometer umgesetzt, die Zeit im Verkehr bleibt gleich oder steigt sogar leicht. Ein Teufelskreis, ein Hamsterrad, ein gigantischer Autoscooter. Das heißt, mit der – als Hintergedanken dieser ganzen Praxis – versprochenen Geruhsamkeit ist es nichts, im Gegenteil, Zeiteinsparung führt zu mehr Hektik, zu mehr Streß. Wir sind vom Tempovirus befallen. Werden immer durchgedrehter. Aber, mit Karl Kraus gefragt: »Was nützt Geschwindigkeit, wenn der Verstand ausläuft?«

Der zweite Hauptsatz der verlogenen Mobilitätsideologen lautet: Mobilität ist die Basis unserer Wirtschaft, und »der verstärkte Warentausch ist ein Garant für Lebensqualität in Europa«.

 

Ausbeutung und TempowahnNun ist tatsächlich diese Form von Mobilität die Basis einer bestimmten, einer kapitalistischen Wirtschaft. Einer, die in erster Linie auf Profit und nicht auf die Herstellung von Gebrauchswerten aus ist. Das Transportwesen einer solchen Gesellschaft funktioniert aber nun ganz anders, als ein vernünftiger Warenaustausch funktionieren würde. Noch mehr als mit dem Pkw wird mit dem Lkw sinnlos herumgefahren. Dies hat eine Ursache. Der Transport von Waren ist viel zu günstig, und deswegen leisten sich die Hersteller von Waren weder Lagerhäuser noch »teure« Arbeitskräfte. Billige Arbeitskräfte findet man in der Dritten Welt, in den Schwellenländern. Notfalls auch Kinder. Da sind außerdem auch die Umweltstandards nicht so hoch, was ebenfalls den Preis senkt. Fast 50 Prozent des weltweiten Handels ist interner Warenaustausch innerhalb weltweit agierender Unternehmen. Berühmt wurde vor Jahren der Weg eines Joghurtbechers, man staunte und vergaß oder verdrängte es wieder. Weniger bekannt ist, daß deutsche Hochseekrabben zwar noch in der Nordsee gefangen werden, aber dann mit dem Lkw durch halb Europa, nach Afrika (Marokko) gefahren, dort von Frauen in Windeseile für ganz wenig Lohn gepult und zuletzt mit dem Lkw wieder nach Deutschland zurücktransportiert werden. (...)

Der Garant unserer Lebensqualität heißt, immer noch und immer mehr: verstärkte Ausbeutung in der Dritten Welt, oder prekäre Verhältnisse anderswo, begünstigt durch billigen Transport. Mobilität für die (noch) reichen Länder. Derweil gehen Arbeitsplätze im Inland und in der EU verloren, weil sie besser bezahlt sind (immer noch nicht gut genug). Aber auch hier nimmt das Prekariat zu. Und über die Arbeitsbedingungen der Lkw-Fahrer muß nicht lange geredet werden: unmenschliche Arbeitszeiten, kein Schlaf, Geschwindigkeitswahn. Es geht ihnen genauso schlecht wie den Seeleuten auf Schiffen unter Billigflaggen (die natürlich wieder von den Hochmotorisierten beherrscht werden, und darunter ist Deutschland einer der Größten). Das ist die Transportmobilität: Ausbeutung und Tempowahn auf der ganzen Linie.

Klaus Gietinger: Totalschaden - Das Autohasserbuch (unter Mitarbeit von Markus Schmidt).
Westend Verlag, Frankfurt/Main 2010, 224 Seiten, 16,95 Euro (ISBN 978-3-9380)

Posted via email from Beiträge von Andreas Rudolf

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