Donnerstag, 22. April 2010

[idw] WSI-Tarifhandbuch 2010: Zwanzig Jahre Tarifpolitik inOstdeutschland

Informationsdienst Wissenschaft - idw - Pressemitteilung
Hans-Böckler-Stiftung, Rainer Jung, 22.04.2010 16:26

WSI-Tarifhandbuch 2010: Zwanzig Jahre Tarifpolitik in Ostdeutschland

In den 20 Jahren seit der Herstellung der deutschen Einheit ist es den
Gewerkschaften gelungen, in Ostdeutschland ein dichtes Netz von
Tarifverträgen zu knüpfen, das in seiner Struktur dem westdeutschen
Vorbild gleicht. Auch inhaltlich ist die Angleichung der tariflichen
Standards in vielen Bereichen weit vorangekommen. Doch von
flächendeckend gleichen tariflichen Einkommens- und Arbeitsbedingungen
in West und Ost kann auch nach zwanzig Jahren noch keine Rede sein. Zu
diesem Ergebnis kommt eine Schwerpunktanalyse im neuen WSI-
Tarifhandbuch 2010, die die tarifpolitische Entwicklung in
Ostdeutschland bilanziert. Das Tarifhandbuch kommt in diesen Tagen auf
den Markt.

Zwanzig Jahre nach der deutschen Vereinigung weist die Bilanz der
Tarifpolitik also Licht und Schatten auf. "Das ist weniger ein
Ausdruck gewerkschaftlicher Schwäche als vielmehr eine Folge der
ökonomischen Verhältnisse", sagt der Tarifexperte des Wirtschafts- und
Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung,
Dr. Reinhard Bispinck. "Der nach dem industriellen Zusammenbruch
zunächst dynamische Aufholprozess ist rasch zum faktischen Stillstand
gekommen und die Tarifpolitik hat sich von der zähen wirtschaftlichen
Entwicklung nicht abkoppeln können."

Ein Blick auf die Entwicklung der wichtigsten Tarifregelungen und
-leistungen zeigt:

Das Tarifniveau Ost/West, also das Verhältnis der tariflichen
Grundvergütungen, betrug 1991 rund 60 Prozent und Ende 2009 96 Prozent
(siehe Abbildung 2 in der pdf-Version dieser PM; Link unten)

Die tarifliche Wochenarbeitszeit lag im Osten 1991 mit 40,2 gut 2
Stunden höher als im Westen mit 38,1 Stunden. Ende 2009 belief sich
die Wochenarbeitszeit auf 38,8 Stunden im Osten und 37,4 Stunden im
Westen.

Der tarifliche Grundurlaub beträgt zurzeit im Osten 26,8 Arbeitstage
(West: 28,1), der Endurlaub, also die maximal erreichbare Zahl von
Urlaubstagen, erreicht 29,5 Arbeitstage (West: 30,1).

Das tarifliche Urlaubsgeld, festgelegt als Prozentsatz des Monats-
bzw. Urlaubsentgeltes, hat in vielen Tarifbereichen Westniveau
erreicht. Da, wo es als fester Euro-Betrag vereinbart ist, ist es
teilweise noch deutlich niedriger.

Die tarifliche Jahressonderzahlung (Weihnachtsgeld) hat in einigen
Bereichen ebenfalls Westniveau erreicht, aber auch in größeren
Branchen (Metall, Chemie, Einzelhandel, öffentlicher Dienst) bestehen
noch Unterschiede.

Dass sich der erreichte tarifliche Angleichungsstand in der Realität
nicht 1:1 niederschlägt, hängt nach Analyse des WSI-Tarifexperten
Reinhard Bispinck damit zusammen, dass die Prägekraft der
Tarifverträge in Ostdeutschland zu schwach ist und im Laufe der Jahre
noch abgenommen hat.

"Das ist eine Folge der deutlich geringeren Tarifbindung, aber in
Ostdeutschland fehlt auch die im Westen über Jahrzehnte gewachsene
Tarifkultur" so der Experte. "Es ist eben im Osten nicht
selbstverständlich, dass zu geordneten Arbeitnehmer-Arbeitgeber-
Beziehungen die tarifliche Regulierung der Einkommens- und
Arbeitsbeziehungen gehört." Die große Kluft zwischen höheren
tariflichen und niedrigeren effektiven Standards von Löhnen, Gehältern
und Arbeitszeiten untergräbt die Verbindlichkeit der Tarifnormen.
Weniger Bindekraft, mehr unverbindliche Orientierungsfunktion - so
lässt sich der Funktionswandel der Tarifverträge in den neuen Ländern
umschreiben.

Die weitere Angleichung der ostdeutschen tariflichen Arbeits- und
Einkommensbedingungen an das West-Niveau und ihre praktische Umsetzung
setzen nach Auffassung des WSI zwingend eine Revitalisierung des
Tarifvertrages und des gesamten Tarifsystems voraus. Nur wenn es
gelingt, die formale Tarifbindung zu erweitern und die inhaltliche
Verbindlichkeit von Tarifnormen zu verbessern, besteht eine echte
Chance, die noch bestehende Tarifkluft zwischen Ost und West zu
verringern.

"Das ist zweifellos eine Aufgabe, der sich die Gewerkschaften in
erster Linie selbst stellen müssen", sagt Bispinck. "Aber es bleibt
auch eine Herausforderung an die Politik." Zum einen würde ein
allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn helfen, das Einkommensniveau am
unteren Rand zu stabilisieren und Spielraum für darauf aufbauende
Tarifpolitik zu schaffen. Zum anderen kann die Politik die Reichweite
der Tarifverträge selbst verbessern, zum Beispiel durch
branchenspezifische Mindestlöhne auf Basis des Entsendegesetzes, durch
ein erleichtertes Verfahren zur Allgemeinverbindlicherklärung von
Tarifverträgen oder auch durch die Einführung von Tariftreuegesetzen
bei öffentlichen Aufträgen. Solche Maßnahmen hätten bundesweit
positive Auswirkungen, so der Wissenschaftler, in Ostdeutschland wären
sie aber von besonderer Dringlichkeit.

Das WSI-Tarifhandbuch 2010 informiert darüber hinaus umfassend und
aktuell über das Tarifgeschehen in West und Ost, die neueste
Tarifrechtsprechung sowie die wichtigsten aktuellen Tarifbestimmungen
in 50 Wirtschaftszweigen und Tarifbereichen.

Arten der Pressemitteilung:
Forschungsergebnisse
Wissenschaftliche Publikationen

Sachgebiete:
Geschichte / Archäologie
Gesellschaft
Politik
Wirtschaft

Weitere Informationen finden Sie unter
http://www.boeckler.de/pdf/pm_ta_2010_04_22.pdf - PM mit Grafiken und Ansprechpartnern

Die gesamte Pressemitteilung erhalten Sie unter:
http://idw-online.de/pages/de/news365724

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung stehen unter:
http://idw-online.de/pages/de/institution621

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