Sonntag, 18. April 2010

[idw] NRW-Wahlkampf: Internet ist noch nicht wahlentscheidend

Informationsdienst Wissenschaft - idw - Pressemitteilung
Universität Hohenheim, Florian Klebs, 07.04.2010 10:20

NRW-Wahlkampf: Internet ist noch nicht wahlentscheidend

Studie der Universität Hohenheim belegt: Bedeutung des Internets für
politische Meinungsbildung im Wahlkampf ist überraschend gering.
Trotz aller Web 2.0-Aktivitäten der Wahlkämpfer: Das Internet wird den
geringsten Beitrag leisten, um NRWs künftigen Regierungschef zu küren.
Zu dieser Prognose kommt Prof. Dr. Thorsten Quandt vom Lehrstuhl für
interaktive Medien- und Onlinekommunikation der Universität Hohenheim
nach sorgfältiger Analyse des Online-Wahlkampfes der vergangenen
Bundestagswahl. Demnach bleiben Fernsehen und Zeitung bislang die
wichtigste Informationsquelle der Wähler.

Ohne Blogs, YouTube-Kanäle und Facebook-Profile scheinen Politiker und
Parteien gar nicht mehr auszukommen - so der aktuelle Eindruck, den
Kommunikationswissenschaftler Prof. Dr. Quandt im Landtagswahlkampf
von Nordrhein-Westfalen erneut bestätigt sieht. "Vor diesem
Hintergrund wollten wir analysieren, was vom Internetwahlkampf
wirklich übrig bleibt, wenn sich der Hype einmal gelegt hat", so seine
Motivation, den Online-Wahlkampf der jüngsten Bundestagswahl einmal
mit den Ergebnissen zu vergleichen.

Für Wahlkampfstrategen fallen die Ergebnisse eher ernüchternd aus:

1. Trotz hoher Internetabdeckung informiert sich nur ein Drittel der
Bevölkerung online über den Wahlkampf.

2. Als Hauptinformationsquelle nennen die Wähler das Fernsehen (52%)
und die Zeitung (22%). Das Internet folgt erst an dritter Stelle mit
13 %, jedoch vor dem Radio (11%).

3. Wichtigste Informationsquelle im Netz sind Nachrichten auf
Portalseiten, gefolgt vom Internet-Angebot der Massenmedien. Foren,
Blogs und Soziale Netzwerke folgen erst an letzter Stelle.

4. Anders als in den USA: Dort nutzen 2/3 das Netz, um sich im
Wahlkampf auf dem Laufenden zu halten. Soziale Netzwerke werden
dreimal so intensiv zur Meinungsbildung vor der Wahl genutzt, wie
hierzulande.

5. Foren, Blogs und Sozialen Netzwerken sind zwar Schlusslicht,
wahlkampfstrategisch jedoch noch der beste Weg, politisch
desinteressierte Online-User zu erreichen.

6. Aber: da sich die meisten User in Foren, Blogs und Sozialen
Netzwerken passiv verhalten, kann eine vergleichsweise kleine Gruppe
hier sehr leicht die Meinungsführerschaft an sich ziehen.

7. Die vergleichsweise hohe Zahl junger Online-User lässt jedoch
vermuten, dass die Bedeutungssteigerung des Internets noch bevorsteht.

Grundlage der jetzt veröffentlichten Analyse ist eine repräsentative
Befragung von 1.000 Wahlberechtigten durch das
Meinungsforschungsinstitut Forsa von Dezember 2009 durchgeführt. Der
Termin einige Wochen - nach der Bundestagswahl erlaubt, im Nachhinein
eine Bilanz zu ziehen, und ermöglicht gleichzeitig den Vergleich mit
einer von der Universität Princeton im Dezember 2008, nach der
amerikanischen Präsidentenwahl, durchgeführten Repräsentativbefragung
(Pew Internet and American Life Project 2008).

Zu 1.

Hohe Internetabdeckung - aber wenig Nutzung zur wahlentscheidenden
Information

Auch vor der Bundestagswahl im Herbst 2009 waren die Erwartungen an
Blogs und soziale Netzwerke als Wahlkampfmittel extrem hoch: "Das
Internet wird wahlentscheidend", hatte der Bundesverband
Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien (BitKom)
noch im August verkündet.

Als Modell galt der stark über das Netz ausgetragene US-
Präsidentschaftswahlkampf 2008, der als Start in ein neues Zeitalter
des "Wahlkampf 2.0" gewertet wurde. So richteten sich die deutschen
Parteien und Kandidaten Blogs und Social Networking Sites ein und
übten sich im Twittern.

Nach der aktuellen Analyse hat sich allerdings nur ein Drittel der in
Deutschland lebenden Bevölkerung (36%) überhaupt im Netz über den
Wahlkampf informiert. Diese Zahl liegt deutlich unter dem
Vergleichswert aus den USA (58 %). Ein Blick in vergangene Befragungen
zeigt, dass in den USA schon im Jahr 2000 mehr als 40 Prozent der
Bevölkerung bekundeten, Informationen zum Wahlkampf im Netz gesammelt
zu haben (Pew 2000).

"Die geringe Bedeutung von Online-Medien im deutschen Wahlkampf lässt
sich allerdings nicht dadurch erklären, dass hierzulande weniger
Menschen das Internet nutzen", meint Prof. Dr. Quandt. Im Gegenteil:
mit fast drei Vierteln (74%) der Befragten sei der Anteil jener
Personen, die zumindest gelegentlich das Internet nutze, genau gleich
hoch wie bei der Vergleichsbefragung 2008 aus den USA (74%).

Zu 2.

Insgesamt Fernsehen und Zeitung bleiben Leitmedien im Wahlkampf

"Anders als die US-Bürger nutzen die deutschen Onliner das Internet
auch in Wahlkampfzeiten kaum als politisches Medium", erläutert Prof.
Dr. Quandt. "Fernsehen und Zeitung bleiben für sie die wichtigsten
Informationsmedien zum Wahlkampf."

Nur für 13 Prozent der Onliner stelle das Internet die wichtigste
Informationsquelle im Wahlkampf dar. Die Vergleichsstudie aus den USA
zeige das Internet ebenfalls an dritter Stelle, allerdings fast
gleichauf mit der Tageszeitung, und mit deutlichem Abstand vor dem
Radio.

Aber auch bei der 30%-Gruppe, die das Internet zumindest zur
Zusatzinformation nutzt, stünden die begehrten sozialen Netzwerke und
Blogs gar nicht im Fordergrund, so eine Detailanalyse der
Projektgruppe um Prof. Dr. Quandt unter den 355 betroffenen Befragten.

Zu 3.

Unter Online-Nutzern haben Portale den größten Einfluss

Tatsächlich stehen solche Nachrichten an erster Stelle, die in die
großen Portale und Suchmaschinen eingebettet sind, wie etwa in die
Einstiegsseiten von Yahoo und GMX oder in das Nachrichtenangebot bei
Google News. 50 % der Befragten informieren sich über diese Angebote -
und verleihen den Betreibern der Portale und Suchmaschinen damit
einige Macht. "Ihr großer Einfluss zeigt sich darin, in welcher
Reihenfolge sie den Nutzern die Nachrichten unterschiedlicher Herkunft
präsentieren", so Prof. Dr. Quandt.

Erst nach den Portalen folgen die eigentlichen Quellen der
Nachrichten: die Webangebote der klassischen Massenmedien. An erster
Stelle stehen die Hompages von Tageszeitungen (genutzt von 41%)
gefolgt von Zeitschriften (genutzt von 37%), die Homepages von
Parteien und Kandidaten (genutzt von 33%) und die Seiten der TV-Sender
(genutzt von 31%).

Die neuen sozialen Medien des web 2.0 platzieren sich am unteren Ende
der Rangfolge. Vorne liegen Foren (genutzt von 17%), gefolgt von Blogs
(genutzt von 15%) und Social Networks (genutzt von 9%). Unter den
Angeboten zum persönlichen Austausch hat noch die klassische E-Mail
die größte Bedeutung (genutzt von 19,4%), Instant Messengers wie
Twitter landen auf dem letzten Platz (genutzt von 7,6% der Online-
Nutzer).

Zu 4.

Starke Unterschiede zum Informationsverhalten der US-Wählern

"Damit zeigen Deutschlands Online-Nutzer ein völlig anderes
Leseverhalten als die US-Surfer", vergleicht Projektmitarbeiter Dr.
Thilo von Pape. Zwar seien in beiden Ländern die Ableger klassischer
Massenmedien noch sehr stark vertreten. Während aber hierzulande die
Online-Ableger von Zeitungen dominieren, seien es jenseits des
Atlantiks 2008 die Webseiten von TV-Sendern (64%). Die Angebote von
Tageszeitungen würden nur von 34 Prozent als Informationsquelle zur
US-Wahl 2008 konsultiert.

Insgesamt spiele in den USA die Medien interpersonaler Kommunikation
eine bedeutendere Rolle. Dies gilt besonders für das Medium "E-Mail"
(65% im Vergleich zu 19% in Deutschland), aber auch für soziale
Netzwerke (23% zu 8%) und für Instant Messaging (11,4 % zu 7,1%).

Zu 5.

Desinteressierte Wähler sind kaum, am ehesten jedoch über 2.0-Angebote
erreichbar

Gleichzeitig zeige sich, dass Wahlkämpfer über Blogs und Soziale
Netzwerke noch am ehesten Chancen haben, politisch desinteressierte
Wähler zu erreichen.

"Die Studie zeigt, dass politisch hoch interessierte Nutzer bestimmte
Medien gezielt ansteuern", erklärt Prof. Dr. Quandt. So nutzen stark
am Wahlkampf interessierte Personen signifikant häufiger die Homepages
von Zeitungen (47% vs. 32%) und Zeitschriften (43% vs. 28%), während
die Homepages von Fernsehsendern nicht signifikant häufiger von
Interessierten als von nicht interessierten als Quelle zur Information
über die Wahl genutzt werden (34% vs. 28%). Unter den digitalen Medien
interpersonaler Kommunikation nutzen an der Wahl Interessierte
deutlich häufiger E-Mails (24% vs. 13%), Foren (22% vs. 10%) sowie
Homepages von Parteien und Kandidaten (38% vs. 27%).

Blogs und Social Networking-Angebote würden dagegen zwar weniger,
dafür jedoch von Interessierten wie auch von Desinteressierten Online-
Nutzern gleichermaßen genutzt. "Wahlkampfstrategisch lässt sich daraus
immerhin positiv ableiten, dass man über Blogs und Soziale Netzwerke
gleichermaßen die weniger Interessierten erreichen kann."

Zu 6.

Kaum Vielfalt: Wenige User bestimmen Meinungsführerschaft im Web 2.0

Gleichzeitig verhalten sich die wenigen Wähler, die sich in Foren und
Social Networks informieren, erstaunlich passiv: "23 von 31 Social
Networking-Interessierten und 46 von 61 Foren-Nutzern geben an,
vornehmlich die Beiträge anderer gelesen zu haben, anstatt selbst
aktiv zu kommunizieren", so Projektleiter Prof. Dr. Quandt.

Wenn überhaupt eine aktive Nutzung festzustellen sei, so im Fall der
E-Mail. Hier gäben 34 von 69 Personen an, auch selbst aktiv über die
Wahl kommuniziert zu haben.

"Die Folge ist, dass es einer verschwindend geringen Minderheit im
Promillebereich gelingt, die Meinungsführerschaft im web 2.0 zu
übernehmen", bestätigt der Kommunkationswissenschaftler.

Jüngere User zeigen: Bedeutung des Internets wird zunehmen

Eine Unterscheidung nach Altersklassen lässt zumindest erwarten, dass
das Wahlkampfmedium "Internet" an Bedeutung gewinnt: Innerhalb der
jüngsten Alterskohorte der 18- bis 29jährigen Onliner (155 Befragte)
stellt das Internet für 29 Prozent das wichtigste Medium zum Wahlkampf
dar - geschlagen allein vom Fernsehen (49%), aber deutlich vor der
Zeitung (19%).

Für alle anderen Altersgruppen liegen zumindest Fernsehen und Zeitung
vor dem Netz. Unter den über 60jährigen (139 Befragte) ist das
Internet schließlich das Wahlkampfmedium mit der geringsten Bedeutung.

Ansprechperson:
Prof. Dr. Thorsten Quandt, Universität Hohenheim, Fg. interaktive
Medien- und Onlinekommunikation
Tel.: 0711/ 459-24471, E-Mail: thorsten.quandt@uni-hohenheim.de

Text: Klebs

Arten der Pressemitteilung:
Forschungsergebnisse
Forschungsprojekte

Sachgebiete:
Gesellschaft
Kulturwissenschaften
Medien- und Kommunikationswissenschaften
Politik
Psychologie

Die gesamte Pressemitteilung erhalten Sie unter:
http://idw-online.de/pages/de/news363032

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung stehen unter:
http://idw-online.de/pages/de/institution234

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