Sonntag, 28. März 2010

Im Jugendwahn kommt dieser Gesellschaft noch etwas abhanden - nämlich die letzten Reste der Körperbehaarung

 

rasa

(Berliner Zeitung - 27-03-2010)

Im Jugendwahn kommt dieser Gesellschaft noch etwas abhanden - nämlich die letzten Reste der Körperbehaarung

Sandra Kellein
 

Zwischen der Entrüstung über Gustav Courbets Gemälde "Der Ursprung der Welt" von 1866 - einer naturalistischen Darstellung des weiblichen Schoßes - bis zum Anblick einer komplett Rasierten in öffentlichen Duschräumen oder am heimischen Badesee liegen gerade mal knapp 150 Jahre. Und heutzutage? Alles zwischen Tabu und Exhibitionismus scheint möglich zu sein. Nachdem Kate Winslet im letzten Jahr den Oscar für den Film "Der Vorleser" ergattern konnte, gab sie zu Protokoll, bei Nacktszenen ein Schamhaartoupet benötigt zu haben; durch rigoroses Epilieren wachse nämlich nicht mehr genug nach. Auch darüber kann man heute in jeder Talkshow reden. Das Courbet-Bild mit der sprießenden Haarvielfalt am Unterleib einer gesichtslosen Dame hingegen gehörte vorübergehend Jacques Lacan, dem berühmten Psychoanalytiker. Der versteckte sogar das Bild lieber, als dass er es zeigte.

Inzwischen begegnet man in Schwimmbädern vielfältigen Möglichkeiten und diversen Ausformungen von Mann und Frau. Im Spiegel von Kacheln und Wasser begegnet man immer wieder unvermittelt sich selbst. Leicht kann man sich unter der Dusche in einem x-beliebigen Fitnessstudio unter Jüngeren als unzivilisierter Wilder fühlen und als Minderheit merkwürdige Einbrüche im Selbstbewusstsein erleiden. Denn je jünger das Publikum, desto spärlicher wird dessen natürlich verbliebener Haarwuchs am Körper. Irokesenverschnitte als zarter Mittelstrich Richtung Schritt oder gleich sachlich streng: völlige Kahlheit. So können Sie, sofern Sie eine Frau sind, auch das Nicht-Sichtbare einmal sichtbarer machen. Vielleicht noch mit einem Schamlippen-Piercing punkten oder andere schlichtweg verstören. Herzförmige Haarformationen scheinen schon wieder weniger comme il faut zu sein. Entsprechende Schablonen für Unkundige zur häuslichen Selbstgestaltung sind allerdings weiterhin per Internet erhältlich. Auch in Form auf- und abstrebender Pfeile, wahlweise platt in Richtung des Gesichts oder plump in Richtung Gemächt. Und falls Sie öffentliche Saunen aufsuchen, wird sich Ihnen offenbaren, dass der Träger oder die Trägerin modisch wallenden Haupthaars sich untenherum kaum vor dem Konflikt mit der rapide um sich greifenden neuen Sitte retten kann. Ausufernde oder mühselig in Form gebürstete Struppigkeit gilt wohl bald als Zeichen von Trotz.

Nun ist das alles nicht neu und in vielen Kulturen verankert. Die Vorbereitung der traditionellen Hochzeit einer muslimischen Braut beinhaltet deren Enthaarung am Tag vorher, um ihr umso reiner in den heiligen Stand der Ehe zu verhelfen. In Teilen Südamerikas wird das weibliche Geschlecht als vertikales Lächeln der Frau bezeichnet. Verständlich, dergleichen und noch mehr davon mit Brazilian Waxing sichtbarer machen zu wollen. Und wie viele Naturvölker befreien sich vor wichtigen Stammes-Riten vollständig vom Körperhaar; Asche kann den Schmerz beim Ausreißen etwas lindern. In Japan dürfen Sie, zumindest auf kunstsinnigen Abbildungen, so gut wie alles zeigen - nur, bitte, kein einziges Schamhaar.

1968 zeigte man lieber Brüste und Haare, heute Verwirrung, Narzissmus und Vielfalt. Uns Überzivilisierten bietet man unzählige spezielle Sprays, Streifen und Sälbchen. Die Kosmetikkonzerne haben Deos entwickelt, die das kitzelige Sprießen von Achselhaaren hinauszögern sollen. Und schon der gemeine FKK-Anhänger präsentierte sich manchmal völlig haarlos. Eine hygienische Maßnahme oder, in den abfälligen Augen anderer, gesteigerter Exhibitionismus? Das Rasieren und Epilieren der Intimzone ist bisher jedoch nicht in der gesamtgesellschaftlichen Mitte angekommen. Es sind Jüngere, die enthaart die eher unschuldig daherkommende Vorpubertät optisch ins Endlose strecken. Während gerade wieder der Verkauf von Haarvolumenprodukten in die Höhe schnellt und aufschwellende Frisuren ringsherum Köpfe und Cover zieren, scheint die Zeit von Achsel- und Schamhaar nun begrenzter zu sein.

Kann Körperbehaarung eine Gesellschaft im kollektiven Jugendwahn etwa älter machen? Haar hat auch eine Schutzfunktion, wie der Pelz beim Tier. Pelz am Körper ist kaum mehr erwünscht. Tier sein zu dürfen, manchmal umso mehr. Doch fast die Hälfte der Jugend will sich selbstbewusst haarlos, verletzlich und unschuldig präsentieren.

Schon vor Jahrzehnten riskierte man in Amerika mit sprießendem Wadenhaar soziale Blessuren, ähnlich wie hierzulande mit dem weiblichen Oberlippenbart. Schon spärlichstes Achselhaar bietet Anlass zu kollektiver Verachtung. Casting-Agenturen stehen heute - siehe oben - vor dem interessanten Problem, geeignete Probandinnen für die Darstellung junger weiblichen Leichen mit real existierendem Schamhaar zu finden. Immerhin, eine nette Abwechslung der herkömmlichen Aufgabenstellungen für Maskenbildner und Perückenmacher. Im Jahr 2001 hatte sich gerade das erste Fotomodell im Playboy mit vollständig enthaartem Intimbereich präsentiert. Jetzt sucht man schon männliche Models mit natürlicher Brustbehaarung oft vergebens. Wer jugendlich oder zumindest sportiv erscheinen möchte, epiliert und rasiert wagemutig über Bikinizonen hinaus. Nicht nur Profischwimmer enthaaren sich ganzkörperlich, um im Wettkampf Sekundenbruchteile zu schinden. Längst tut das wahrscheinlich auch der Nachbar. Vielleicht kann bei manch Enthaartem so die Lust wirklich besser sprudeln, wenn man schon nicht die schlanken Körperformen nackter Renaissanceschönheiten von Gemälden besitzt?

Doch kann die Haarentfernung zur Sisyphusarbeit oder zur Beschäftigung eines gediegenen Zwangsneurotikers ausarten. Das meiste wächst ohne Lasereinsatz und Haarwurzelverödung unerschrocken nach. Die Auslagerung häuslicher Pflegeintimitäten hin zu Fachkräften setzt mit stetig anwachsenden Studiozahlen gesellschaftlich ein Zeichen. Da kann der Gang ins Epilationsinstitut zum Dauerversuch einer pseudoreligiösen Kartharsis werden: ein solides Schmerz- und Vertrauensritual als heilende Kraft, eine private Säuberungsaktion gegen die Unbill von Zeit und Wirtschaft. Der entsprechende Obolus als finanzielles Opfer gibt den Segen. Die verletzlichsten, geheimsten Körperteile Servicekräften als alltägliche Mutprobe anzuvertrauen, das mag für manchen so effektiv und erneuernd sein wie ein Schluck der heiligen Wasser von Lourdes.

Sollte sich diese neue Sitte weiter ausbreiten, würde der spärlicher werdende Haarwuchs älterer Menschen bald als biologisch-dynamisches Auslaufmodell oder als Beweis kämpferischer Selbstbehauptung anmuten - gegen den Strich von Moden und der Diktatur eifrig geschwungener Rasiermesser und Lady-Shaves. Wahrscheinlich ist das glücklicheren Menschen eher egal. Nur dem Nacktjunkie liegt nach dem Abreißen des Wachsstreifens der Nerv wegen verlustig gegangener Haarwurzeln noch kurz blank. Oder geht Rasieren über Studieren?

Posted via email from Beiträge von Andreas Rudolf

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