Donnerstag, 25. Februar 2010

Die Krise als Normalfall - und als Chance: LMU-Forscher Nassehi veröffentlicht "Soziologische Storys"

Informationsdienst Wissenschaft - idw - Pressemitteilung

Ludwig-Maximilians-Universität München, Luise Dirscherl,
25.02.2010 13:32

Die Krise als Normalfall - und als Chance: LMU-Forscher Nassehi
veröffentlicht "Soziologische Storys"

"Welche Krise?" Das sei letztlich egal, meint LMU-Soziologe Professor
Armin Nassehi. In seinem gerade veröffentlichten Buch "Mit dem Taxi
durch die Gesellschaft. Soziologische Storys" gehe es ihm vielmehr um
die unvermeidliche Krisenhaftigkeit der modernen Gesellschaft.

Anders als andere Werke zeigt sein Buch deshalb auch keine Lösungen auf noch
sucht es die Verantwortlichen einer Krise zu identifizieren.

Für Nassehi ist der Ausnahmezustand in unserer hochkomplexen Gesellschaft
vielmehr  Normalfall. Schließlich basiert unsere Gesellschaft eher auf
Konfrontation und Differenzen, die auch durch Kommunikation nicht ohne
Weiteres beseitigt werden können.

Für Nassehi bietet sich hier eine Chance, wenn denn nicht mehr naiv
nach der einzig richtigen Beschreibung oder Lösung gesucht werde. "Mir
geht es um den Blick für Blicke", sagt der Soziologe. "Warum erscheint
die Welt aus unterschiedlichen Perspektiven und Positionen so
unterschiedlich, und warum verfangen wir uns in unseren eigenen
Sichtweisen?" In seinem Buch plädiert er für eine "entschieden
liberale" Haltung, wenn auch nicht in einem vordergründig politischen
Sinne: "Wir müssen vielmehr Verständnis für unterschiedliche
Weltzugänge entwickeln, also die verschiedenen Positionen verstehen -
und uns in sie hineinversetzen."

Die zentrale Frage in Nassehis "Soziologischen Storys" ist, wie sich
Menschen verhalten, wenn sie von verschiedenen Standpunkten aus
miteinander reden, wenn sie ihren normalen Alltag leben, wenn sie
Führungsaufgaben übernehmen, wenn sie mit Krisen konfrontiert sind
oder die Gesellschaft verändern wollen.

Treffen in Konfliktsituationen - fast zwangsläufig - unterschiedliche Perspektiven
aufeinander, kann es kaum zu einer eindeutigen und einzig richtigen Lösung kommen.
Das gilt schon für scheinbar banale Situationen, umso mehr aber wenn etwa
Fragen nach dem freien Willen, nach Fremdheit und Toleranz zu klären
sind, wie Nassehi in seinem Buch anhand von Beispielen beschreibt.
"Sehr oft haben sogar alle Beteiligten recht, wenn man ihren Kontext
und ihre Perspektive berücksichtigt", sagt Nassehi.
"Das gilt auch, wenn sie radikal Unterschiedliches beitragen.

Eine einzig richtige Beschreibung einer Situation zu erwarten, ist als Blick auf die
Gesellschaft naiv - das wird der Komplexität unserer modernen Welt nicht gerecht."

Früher sei die Gesellschaft wohl eher noch "aus einem Guss" gewesen,
vermutet der Soziologe. Der Sinn fürs Praktische habe damals wohl
darin bestanden, zu tun, was getan werden musste - immer wieder gleich
und jeder an seinem verordneten Ort. "Der Sinn fürs Praktische ist
heute aber - im Wortsinne - ein Widersinn", meint Nassehi. "Denn er
muss sich angesichts einer Gesellschaft, die durch Verschiedenheit
geprägt ist, inmitten einander entgegenstehender Bedeutungen,
Interessen, Aufgaben und Anforderungen bewähren."

Dadurch aber ergibt sich auch ein neuer Begriff von Professionalität und von Elite, bei
dem es nicht mehr nur um die Kennerschaft auf dem eigenen Gebiet geht,
sondern um ein aktives Rechnen mit anderen Fertigkeiten und Fähigkeiten.

Das mag den Verlust althergebrachter Steuerungskompetenzen und -phantasien bedeuten.
"Es ist aber auch ein Gewinn, wenn der Umgang mit der Verschiedenheit und Differenziertheit
der modernen Gesellschaft besser wird", meint Nassehi. "Bislang reflektiert die öffentliche Diskussion
gesellschaftlicher Themen, Probleme und Herausforderungen selten die grundlegende
Multiperspektivität der Gesellschaft."

Der Soziologe zeigt sich überzeugt, dass sich die drängendsten Probleme, von der Ökologie

über die globale Ungleichheit, von der Demografie bis zur Weltfinanzkrise, von der Versorgung
der Menschheit mit Lebensmitteln bis zur Energieversorgung der Zukunft nicht im Kampf
um einen einzig richtigen Weg lösen lassen. Sehr deutlich zeigt sich dies auch in der medizinischen
Praxis, in der zunehmend seltener von "Halbgöttern in Weiß" die Rede ist.

Denn hier stellen sich neue Aufgaben, für die es noch keine Routinen gibt, und Menschen
müssen miteinander reden, die vorher arbeitsteilig effizient eingebunden waren.
Selbst der Soziologe Nassehi steht dann manchmal für einen bestimmten
Kontext und eine spezifische Perspektive - und wird auch sowahrgenommen.

Das machte ihm nicht zuletzt ein befreundeter Arzt klar, der Sterbende begleitet und
dabei neben medizinischen Fragen unter anderem auch juristische, seelsorgerische und
ethische Aspekte berücksichtigen muss. "Ich habe erfahren, dass sich unsere Arbeit
ändert, wenn wir den Mut haben, die eingefahrenen Zuständigkeiten in Frage zu 
stellen",
ließ der Palliativmediziner den Soziologen Nassehi eines Tages wissen. "Was meinst du,
warum  ich als Arzt sogar mit Soziologen rede?" (suwe)

Publikation:


Armin Nassehi: "Mit dem Taxi durch die Gesellschaft. Soziologische
Storys",

Murmann Verlag, Hamburg, Februar 2010, ISBN 978-3-86774-095-1, 19,90
Euro

Ansprechpartner:


Professor Armin Nassehi
Institut für Soziologie
Tel.: 089 / 2180 - 2441

Web: www.nassehi.de

Arten der Pressemitteilung:
Wissenschaftliche Publikationen

Sachgebiete:
Gesellschaft
Philosophie / Ethik

Die gesamte Pressemitteilung erhalten Sie unter:
http://idw-online.de/pages/de/news357231

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung stehen unter:
http://idw-online.de/pages/de/institution114

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